Dienstag, 24. April 2018

Familie und Sucht

Sigrid Rausing, Verlegerin von Granta Books und Portobello Books sowie Herausgeberin des Granta Magazine, stammt aus einer sehr begüterten schwedischen Familie. Ihr Bruder Hans und seine Frau Eva hatten sich in einer Entzugsklinik kennengelernt, geheiratet, Kinder bekommen, sich für Suchtkranke eingesetzt und dann, nach Jahren, einen Rückfall erlitten, den er überlebt, sie jedoch nicht. Darüber und wie die Familie mit der Sucht der beiden umgegangen ist, berichtet Sigrid Rausing in Desaster. "Dieses Buch handelt davon, was es heisst, Zeuge einer Sucht zu werden."

Nicht nur das, will ich da gleich einwerfen, denn es erzählt darüber hinaus auch vom Leben, den Schwierigkeiten, Bedürfnissen und Freuden der Autorin. Und das ist gut so, denn allzu häufig handeln Bücher über Sucht fast ausschliesslich von den Problemen der Süchtigen.

 Sigrid Rausing schreibt von ihrer Depression: "Wenn man depressiv ist, gibt es kein Echo im Kopf. Der Kopf bleibt stumm. Ich muss mich korrigieren: In meinem depressiven Kopf gab es kein Echo. Was weiss ich schon über die Erfahrung anderer." Sie beschreibt sich als Skeptikerin und für eine solche kann eine Klinik nur begrenzt was tun. Sie hat gelernt, sich selber zu helfen, mit langen Spaziergängen, Lesen, Schreiben und dem Recherchieren für ihre Doktorarbeit.

Hätte sie sehen müssen, was mit ihrem Bruder und seiner Frau los war? Hätte es ihre Familie sehen müssen? Und falls ja, was genau? Und was hätte man tun sollen, tun können? "Und obwohl ich wusste, wie fehlbar eine Gruppentherapie war, und überhaupt, wie begrenzt die Handlungsmöglichkeiten, glaubte ich auch weiterhin, dass solche Kliniken für Hans und Eva das Richtige waren. Es ist ähnlich wie mit der Schule für die Kinder, an die man ja auch glaubt – einfach, weil es keine Alternativen gibt." 

Die Familie will Hans und Eva helfen, die einen tendieren zu Strenge, die anderen zu Verständnis. "Hans und Eva schwankten hin und her, manchmal leugneten sie vehement, dass irgendetwas nicht stimmte, dann wieder gaben sie uns die Schuld an allem, was nicht stimmte  dieser Mechanismus erscheint den meisten Menschen, die sich mit Sucht auseinandersetzen müssen, bestimmt bekannt." In der Tat! Genauso wie die Frage, ob Süchtige Opfer oder Täter sind, denn sie zerstören nicht nur sich selber, sie zerstören auch Familien und Freunde – sie sind beides, Opfer und Täter.

Desaster ist teils Familiengeschichte, teils Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sucht. Sigrid Rausing hat sich breit informiert, weiss, wie wenig Konkretes man darüber weiss,  spekuliert, wie alle anderen auch. Und sie erkennt: "Es ist gefährlich, Narrative des Unglücks zu schaffen, die möglicherweise den emotionalen Teil der Sucht erklären, ihn unter Umständen aber auch verstärken. Deshalb meiden die Zwölf-Schritte-Programme jede Art von Kausalkette."

Desaster klärt auch vielfältig auf. Etwa darüber, wie die Rechtssprechung wohlhabende Drogenkonsumenten begünstigt. Oder darüber, dass es Handlungen gibt, die irreversibel sind. Oder darüber, dass es keine Rolle spielt, ob sich jemand freiwillig für eine Therapie entscheidet oder gerichtlich dazu verdonnert wird. "Wenn jemand erst einmal in einer Entzugsklinik ist, kann die Wende eintreten. Man muss es sich wie einen Prozess der Entradikalisierung vorstellen. Sucht ist nämlich mindestens genauso eine Kultur der Rebellion, wie sie eine Erbkrankheit ist oder eine psychische Störung."

Es sei das Schicksal von Angehörigen leidender Menschen, notiert Sigrid Rausing, "dass sie sich immer überlegen müssen: Was hast du getan – und was hast du nicht getan." Sicher, das auch, doch zu diesem Schicksal gehört auch noch etwas anderes – die Auseinandersetzung mit sich selber, mit seinem eigenen Leben. Auch davon handelt dieses Buch. 

Desaster ist ein höchst differenziertes und beeindruckend aufrichtiges Werk.

Sigrid Rausing
Desaster
S. Fischer; Frankfurt am Main 2018

Mittwoch, 18. April 2018

Unwiderstehlich

Als Steve Jobs im Januar 2010 der Öffentlichkeit das iPad vorstellte, pries er es als einzigartig, als unglaubliches Erlebnis, als das Beste überhaupt, um Fotos anzusehen, Musik zu hören, Spiele zu spielen. „Er glaubte, jeder solle ein iPad besitzen. Seinen Kindern aber verweigerte er hartnäckig die Benutzung des Geräts“, schreibt Adam Alter, Professor für Marketing, in „Unwiderstehlich. Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit“. Mit anderen Worten: Steve Jobs hielt sich an die Grundregel aller Drogendealer: Nimm selbst nie die Drogen, die du verkaufst.

Gemäss Adam Alter sind unsere Vorstellungen von Sucht zu beschränkt, denn wir denken bei Süchtigen regelmässig an Menschen mit bestimmten Anlagen, die von Substanzen wie Heroin, Alkohol, Kokain, Nikotin etc. abhängig sind. Alters Meinung nach „entsteht Sucht vor allem aus einer Mischung aus Umwelteinflüssen und Umständen.“ Er redet von Verhaltenssüchten und diese sind vielfältig: Glücksspiel, Shopping, soziale Netzwerke, E-Mail etc..

Verhaltenssucht ist nicht nur ein eigenartiger, sondern ein irreführender Begriff, denn so recht eigentlich kann sich der Mensch nicht nicht verhalten – wir verhalten uns immer – und natürlich ist nicht jedes Verhalten ein süchtiges. Sucht sei „eine starke Bindung an Erlebnisse, die schädlich und dennoch unwiderstehlich sind“, so Professor Alter.

Das klingt, als ob alles zur Sucht werden kann. Und so ist es auch. Dazu kommt, dass die moderne Konsumgesellschaft durchaus ein Interesse daran hat, uns süchtig zu machen, denn wir sollen ja kaufen, kaufen, kaufen und je weniger wir den Angeboten widerstehen können, desto besser für die Wirtschaft. 

Für mehr, siehe hier

Mittwoch, 4. April 2018

Über die 12 Schritte, und mehr

Vor zwei Tagen bin ich beim AA-Treffen auf einen Deutschschweizer getroffen. Hugo heisst er, wirkt sympathisch. Sein Apartment liegt nur ein paar Häuser weiter, auch in der Soi 1. Nach dem Treffen sind wir zusammen essen gegangen, habe ihm von meinen Rachefantasien erzählt, sehr allgemein. Er schien ganz interessiert. Von meinen beiden Probeläufe in Zürich und St. Gallen habe ich nichts gesagt. Vielleicht lässt sich was zusammen machen. Muss ihn zuerst besser kennenlernen.

Heute morgen traf ich ihn zufällig im Coffeeshop beim Landmark. Er war alleine dort, mit der Bangkok Post und The Nation. Ich begann ihn über sein Coaching-Buch auszufragen.
„Für wen schreibst Du es?“
„Für mich. Ich will mir über mich selber klar werden. Schreiben ist für mich Therapie.“
„Okay. Mein Frage zielte auf etwas anderes. Wer ist dein Zielpublikum?“
„Diejenigen, die von Therapien nichts halten.“
„Für die gibt es Sport oder Selbsthilfegruppen wie die AA.“
„Stimmt. Also für die, welche mehr wollen, als die AA ihnen bieten können.“

„Etwas Besseres als die 12-Schritte gibt es meiner Meinung nach nicht. Was fehlt dir denn bei den AA?“
„Das Programm ist schon gut, doch die meisten verstehen es nicht. Ich habe es auch lange nicht verstanden.“
„Es kann auch wirken, wenn man es nicht versteht. Es zu praktizieren reicht. Also noch einmal: Was fehlt dir?“
„Ich bin ein Suchthaufen, ich kriege nie genug, von gar nichts. Mir fehlt immer irgend etwas. Damit muss ich leben.“
„Verstehe. Und doch nicht. Ich meine, wozu schreibst du ein Buch? Du musst doch eine Botschaft haben ...“.
„Hab ich ja. Dass es keine gibt, das ist meine Botschaft. Und man sich damit abfinden muss.“
„Ziemlich deprimierend.“
„Für mich nicht. Ich habe ein Leben lang nach der richtigen Botschaft, dem Schlüssel, der Erleuchtung gesucht. Und immer mal wieder auch gefunden. Hat aber leider nie lange angehalten.“
„Mit dem Verliebtsein ist es auch so.“
„Genau.“

„Doch worauf willst du mit deinem Buch hinaus?“
„Wie gesagt, zuallererst war das Schreiben eine Selbsttherapie. Ich bin mir klarer darüber geworden, was mich ticken macht. Mein Lebensproblem, ja eigentlich alle meine Probleme, gründen in Angst. Vor dem Leben, vor dem Tod, vor dem Sterben, so recht eigentlich macht mir alles Angst. Und ich denke, es geht allen so, doch nicht im selben Ausmass. Bei mir ist sie heftig. Davonlaufen funktioniert nicht, sie holt mich immer wieder ein. Natürlich motiviert sie mich auch. Ich habe versucht, mich ihr zu stellen. Und zeige in meinem Buch jetzt auf, wie ich das gemacht habe und mache. Gut möglich, dass das auch für andere ein Ansatz sein könnte.“
„Sicher, doch wahrscheinlicher scheint mir, dass die meisten nichts davon wissen wollen.“
„Aus Angst“, lachte Hugo.
„Na ja, allein von dir aus zu gehen, scheint mir dann doch reichlich egozentrisch.“
„Überhaupt nicht, ich halte mich nicht für eine derartige Ausnahme. Ich denke, andere empfinden genauso.“

„Doch nicht alle wollen sich ihrer Angst stellen. Vielleicht auch, weil sie viel zu viel Angst vor ihrer Angst haben.“
„Das respektiere ich, doch mit solchen Leuten will ich nichts zu tun haben, denn die verstehen mich nicht einmal ansatzweise.“

Als Hugo das sagte, da wusste ich, dass ich einen zutiefst verletzten Mann vor mir hatte.

Aus: Hans Durrer: Herolds Rache. Fehnland Verlag, 2018