Mittwoch, 29. November 2017

Endlichkeit & Augenblick

"Leben und Tod kommen immer im Paket –  das eine erhält man nicht ohne das andere", leitet Frank Ostaseski, Mitbegründer des ersten Zen-Hospizes in den USA, seinen Ratgeber Die fünf Einladungen ein. Der Untertitel verdeutlicht, worum es ihm geht Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben. 

Wir alle wissen, dass wir einmal sterben werden. Die gängigste Art und Weise, damit umzugehen, ist die Verdrängung, manchmal retten wir uns auch in den Humor – auf die Frage: Wie seine Einstellung zum Tod sei?, antwortete Woody Allen einmal: Ich bin total dagegen – , die vermutlich wenigsten setzen sich ernsthaft damit auseinander. Frank Ostaseski, massgeblich beeinflusst von Elisabeth Kübler-Ross und Stephen Levine, plädiert für Letzteres.

"Ohne den Tod als Mahner neigen wir dazu, das Leben für etwas Selbstverständliches zu halten, und verlieren uns häufig in der endlosen Jagd nach Bedürfnisbefriedigung. Wenn wir den Tod öfter im Bewusstsein haben, klammern wir uns nicht mehr so sehr am Leben fest." Anders gesagt: Das Leben ist ein Wunder, das jeden Moment stattfindet. Weshalb denn auch die erste von Frank Ostaseskis Einladungen lautet: "Warte nicht."

Das einzig Beständige ist bekanntlich der Wandel. Obwohl wir das wissen, leben wir nicht gemäss dieser Wahrheit. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern so recht eigentlich unerklärlich, denn wenn wir wirklich genau hinschauen, werden wir feststellen, dass es gar nichts anderes gibt als diesen Wandel. Wer erkennt, dass er/sie vergänglich ist und seine/ihre Lebensumstände im Fluss sind, wird eine Übereinstimmung mit dem Gesetz von Wandel und Werden erleben.

Es ist überaus hilfreich, "Zuflucht in der Vergänglichkeit zu suchen. Also nicht in der Erwartung, dass sich die Dinge so entwickeln, wie wir es erhoffen oder befürchten, sondern in der Tatsache, dass sie sich auf jeden Fall ändern, ob wir das nun wollen oder nicht."

Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben erzählt ganz viele Geschichten, die dieses "Warte nicht" (wie auch die anderen Einladungen Frank Ostaseskis) eindrücklich illustrieren. Mich haben viele von ihnen angeregt, meine Aufmerksamkeit auf diesen ständigen Wandel zu richten – indem ich mich etwa auf das Pumpen des Herzens und das Ein- und Aus-Atmen konzentrierte sowie mir (recht erfolglos) zu vergegenwärtigen versuchte, dass bei einem erwachsenen Menschen jede Sekunde 50 Millionen Zellen absterben und fast genau so viele neu entstehen. Aber eben nur fast, denn der erwachsene Mensch baut nach und nach ab.

Das Leben gehört konfrontiert. Vorbehaltlos. Frank Ostaseski zeigt an vielen Beispielen, wie das geht. Dabei gibt er nicht den über der Sache stehenden Experten, sondern zeigt sich auch mit seinen Schwächen. Das ist überaus sympathisch, auch wenn es manchmal etwas gar lieb und nett zu und her geht. So fühlte er sich nach einer schweren Herzoperation unattraktiv wie auch nicht mehr liebenswert und machte sich darüber hinaus Sorgen, man würde ihn vergessen. "Glücklicherweise war ich von Menschen umgeben, die mich trotz alledem liebten. Mein Name wurde überall in den buddhistischen Zentren auf die Altäre gesetzt, und meine Freunde und Schüler chanteten meinen Namen bei ihren Gebeten und Praktiken."

So einleuchtend und nützlich ich viele seiner Ausführungen finde, bescheiden ist der Mann nicht, der als "Der bedeutendste Vertreter der Hospizarbeit" auf dem Buchumschlag vorgestellt wird. Sicher, das mag der Verlag zu verantworten haben, doch er lobt sich auch gerne selber. "Im Jahre 2004 gründete ich das Metta Institute zur Förderung achtsamer, mitfühlender Sterbebegleitung. Ich brachte grosse Lehrer zusammen, darunter Ram Dass, Norman Fischer, Rachel Naomi Remen und andere, die einen Lehrkörper von Weltklasse bildeten." Weltklasse in Sachen Sterbegleitung?

Irritierend fand ich überdies des Autors festen Glauben "an unser grundlegendes Gutsein als Menschen" (grundlegend ist meines Erachtens eher unser unbedingter Lebenswille) sowie seine Überzeugung, die Wahl der Worte würde auch unser Handeln bestimmen. "Meine Freundin Rachel Naomi Remen drückt dies besser aus als jeder andere, wenn sie schreibt: 'Helfen, Reparieren und Dienen sind drei unterschiedliche Arten, die Welt zu verstehen. Wenn du hilfst, siehst du das Leben als etwas Schwaches. Wenn du reparierst, siehst du das Leben als etwas Zerbrochenes. Wenn du dienst, siehst du das Leben als etwas Ganzheitliches. Reparieren und Helfen mag Aufgabe des Egos sein, Dienst ist die Aufgabe der Seele."

Eine der für mich bewegendsten Geschichten in diesem Buch ereignete sich anlässlich eines Workshops, den Frank Ostaseski in Berlin leitete. Eine Frau meldete sich: "Ich habe Ihnen zugehört, als Sie über Vergebung sprachen. Aber mein Vater war Gefangener in den Konzentrationslagern, und ich kann seinen Mördern nicht vergeben. Mein Herz ist wie aus Eis." Stille. Eine andere Frau meldete sich: "Mein Herz ist auch wie aus Eis. Es fühlt sich an wie ein Stein. Mein Vater war Nazi-Offizier und als Wachmann in den Lagern. Ich weiss, dass er Menschen getötet hat. Ich kann ihm nicht vergeben." Wiederum Stille. Dann bahnten sich die beiden Frauen den Weg durch den grossen Sitzungssaal mit 250 Menschen und umarmten sich wortlos.

Die fünf Einladungen: Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben ist ein höchst empfehlenswerter Ratgeber, reich sowohl an praktischen Anregungen als auch an erstaunlichen und berührenden Geschichten, die das Leben geschrieben hat.

Frank Ostaseski
Die fünf Einladungen
Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben
Knaur Menssana, München 2017

Mittwoch, 22. November 2017

Eine Reise ins Leben

Ich gehe dieses Buch voreingenommen an. Einerseits kommt es mir vor, als ob es zur Zeit gerade gar viele Bücher zum Thema 'Wie uns die Angst vor dem Tod zu leben lehrt' gebe, andererseits kann ich mir nicht recht vorstellen, was mir eine (im Vergleich zu meinen fortgeschrittenen Alter) noch recht junge (1981 geborene) Frau über das Leben und den Tod beibringen soll. Doch waren diese Bedenken bereits nach den ersten paar Seiten von Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden wie weggeblasen. 

"Alle meine Lebensjahre hindurch habe ich gelernt, mir Dinge angeeignet, mich weitergebildet, ich habe mich aufgerappelt, nach jedem Schicksalsschlag und jedem Schmerz, immer wieder, und das soll das Ergebnis sein? Der Tod? Nein, damit finde ich mich nicht ab. Ich kann nicht. Und das ist ein Problem. Ich kann nämlich nicht mehr schlafen. Ich kann mich nicht entspannen. Ich kann mich nicht loslassen."

Sie tut, was sie tun kann und beginnt, "sich mit dem eigenen Sterben zusammenzudenken." Sie besucht das Leichenschauhaus, den Vortrag eines Kriminalbiologen und setzt sich mit der Beerdigung von Helmut Schmidt auseinander. Sie tut, was Journalisten eben so tun – sie recherchiert. 

Dabei stösst sie auch auf die Top-Ten-Liste der gefragtesten Lieder bei Beerdigungen. 2015 stand 'Time  To Say Goodbye' von Sarah Brightman auf Platz 1 und 'Air Suite Nr. 3 von Johann Sebasian Bach auf Platz 10. Saskia Jungnikl kommentiert: "Ein paar davon kann ich nachvollziehen, so wie Bach, die meisten davon nicht. Ich finde ja 'Here comes the Sun' von George Harrison schön oder auch 'Happy days are here again' von Charles King. Doch beide höre ich lieber jetzt gleich und lebend, als zu wissen, dass sie dann alle anderen hören, während ich tot bin."

Da die meisten Menschen an einer Krankheit sterben, beschliesst Saskia Jungnikl etwas für ihre Gesundheit zu tun. Sie  geht ins Fitnesscenter und merkt, Sport kann gut tun. Auch überlegt sie sich, reich zu werden sowie einen Wohnortswechsel vorzunehmen, denn ihre Internet-Recherchen haben ergeben, dass Reiche länger leben und die Lebenserwartung geografisch variert.

Ich fühlte mich sofort in dieses mit viel Witz und Humor geschriebene Buch hineingezogen, doch so gelungen der Einstieg ist, die Autorin verliert sich leider bald und immer mal wieder, erzählt vom Geburtstag der Mutter auf der Rax, einem Berg in Österreich, von ihrer Heirat und vom Umziehen, gibt Tipps für Trauernde und äussert allerlei Allerweltsgedanken, die uns allen hin und wieder durch den Kopf gehen und nicht weiter bringen. "Die schönen und glücklichen Momente muss man sich selbst schaffen. Es gibt keine ausgleichende Gerechtigkeit, die sich von selbst einstellt."

Glücklicherweise findet sie immer wieder zurück, setzt sich mit Philosophen auseinander, zitiert Studien, die sie alle ernst zu nehmen scheint, listet skurille Todesfälle auf, plädiert dafür, sich zu öffnen und über das zu reden, was einen wirklich beschäftigt und und und ... mir gefällt diese wunderbare vielfältige Mischung aus Banalem, Durchdachtem und manchmal wenig Durchdachtem. So zitiert sie etwa eine Studie der Mayo-Klink, gemäss welcher "vor allem die 65- bis 80-jährigen Teilnehmer von einem Intervalltraining profitiert hatten", woraus Saskia Jungnikl schliesst: "In Sardinien etwa werden die Menschen auch deswegen so alt, weil sie in Bergdörfern oft auf und ab steigen müssen – Intervalltraining wie aus dem Lehrbuch." Anzufügen wäre: Im bolivianischen La Paz (Höhenlage zwischen 3 200 bis 4 100 Meter) ist das hingegen nur zu empfehlen, wenn man den Schwindel nicht scheut.

Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, die Angst vor dem Tod zu überwinden thematisiert auch, wie aus der Angst vor dem Tod ein Geschäft gemacht wird: "Die medizinische Überversorgung von Menschen am Lebensende ist ein Milliardenmarkt. Ein Drittel der Gesundheitskosten entsteht allein im letzten Lebensjahr. Ein Drittel!" Und überhaupt: "Wenn eine Gesellschaft das Altern als Krankheit versteht, wie soll sie dann gelassen und würdevoll altern?"

Meine persönlichen Highlights sind das Kapitel "Lebe", eine starke, intensive Schilderung vom Laufen, sowie diese ganz unspektakuläre Schilderung (bei der es nicht um den Champagner geht!), die schön illustriert, dass sich Zeit zu nehmen das wohl beste Mittel gegen die laufend weniger werdende Lebenszeit ist. "Ich nehme eine Flasche Champagner, die seit Monaten im Kühlschrank liegt, und mache sie auf. Ich habe keinen Anlass. Nur den Moment. Ich sitze auf der Couch, ohne Handy, ohne Fernsehen, ohne Buch oder Zeitschrift. Ich trinke und sitze und schmecke und spüre in mich hinein."

Saskia Jungnikl
Eine Reise ins Leben oder wie ich lernte, 
die Angst vor dem Tod zu überwinden 
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2017

Mittwoch, 15. November 2017

Die Weisheit eines Yogi

Sadhguru, geboren im südindischen Mysore als Sohn eines Arztes und einer Hausfrau, war ein neugieriges Kind, das die Schule öde fand, und lieber auf eigene Faust die Welt erkundete. Und sich wohl nicht zuletzt deswegen zu einem sehr eigenständigen Denker entwickelt hat.

Die Frage nach dem Was und Warum hat ihn nie interessiert, ihn beschäftigte immer nur das Wie. Er lernte, "einfach ohne jedes Motiv hinzuschauen", eine Fähigkeit, die heute in der Welt fehlt. Und er begriff, dass wie er sein Leben leben wollte, in seiner Hand lag.

Ursprung und Basis jeder menschlichen Erfahrung liegt in unserem Inneren. "Jede menschliche Erfahrung ist zu hundert Prozent von uns selbst geschaffen." Und das bedeutet, das wir unser Schicksal selber gestalten.

Als ein Teilnehmer einer internationalen Konferenz über Armut auf der Erde, provokativ fragte: "Wieso versuchen wir überhaupt, solche Probleme zu lösen? Ist das nicht alles der göttliche Wille?" antwortete Sadhguru: "Tja, wenn jemand anders stirbt oder hungrig ist, muss es wohl der göttliche Wille sein. Aber wenn Ihr eigener Magen leer ist, wenn ihr eigenes Kind an Hunger stirbt, werden Sie doch etwas unternehmen, oder etwa nicht?"

Sadhguru ist praktisch unterwegs, theoretische Überlegungen hält er für wenig relevant, persönliche Verantwortlichkeit ist ihm zentral. "Bei Verantwortlichkeit geht es schlicht um deine Fähigkeit, bewusst zu reagieren. Wenn du beschliesst: 'Ich bin verantwortlich', dann besitzt du diese Fähigkeit; wenn du beschliesst: 'Ich bin nicht verantwortlich', dann besitzt du sie nicht."

Das ist nicht einfach eine Wort- oder Gedankenspielerei, das ist eine Realität, denn: "Sobald du dich verantwortlich fühlst, wirst du unweigerlich Möglichkeiten erkunden, mit der Situation umzugehen. Du wirst nach Lösungen suchen. Wenn du diese Haltung häufig einnimmst, verbessert sich kontinuierlich deine Fähigkeit, deine Lebenslage zu gestalten."

Jeder Mensch, so Sadhguru, lebe ständig in einem Zustand des Mangels. Nichts sei ihm genug, immer wolle er mehr. Sein wahres Bedürfnis sei jedoch grenzenlose Ausdehnung. "Die meisten Menschen sind sich der Natur ihrer Sehnsucht nicht bewusst. Wenn diese einen unbewussten Ausdruck annimmt, sprechen wir von Gier, Bestreben, Ehrgeiz. Findet unsere Sehnsucht hingegen einen bewussten Ausdruck, nennen wir das Yoga."

Im Yoga geht es um Selbstharmonisierung. Wie man diesen bewussten Weg der Selbstentdeckung und Selbstfindung geht, erläutert Sadhguru im zweiten Teil dieses Buches. Dabei stellt er auch Sadhanas (Übungen) vor, die ich wunderbar hilfreich finde. Hier ein Beispiel:

"Setze dich einige Minuten vor eine Pflanze, zum Beispiel einen Baum. Erinnere dich daran, dass du das einatmest, was er Baum ausatmet, und das ausatmest, was der Baum einatmet. Auch wenn das keine bewusste Erfahrung darstellt, kannst du so eine geistige Verbindung zu diesem Baum herstellen. Du kannst das mehrmals täglich wiederholen. Nach einigen Tagen wirst du dich allmählich mit allem, was dich umgibt, auf eine neue Weise verbinden. Das wird nicht auf einen einzelnen Baum beschränkt sein."

Die Weisheit eines Yogi ist nicht nur ein eindrücklicher Augenöffner, sondern auch eine überzeugende praktische Anleitung für ein bewusstes und selbstbestimmtes Leben.

Sadhguru
Die Weisheit eines Yogi
Wie innere Veränderung wirklich möglich ist
O.W. Barth, München 2017

Mittwoch, 8. November 2017

Death of a Policeman

On Tuesday, 26 January 2010, one day before the opening of the World Economic Forum (WEF) in Davos, Switzerland, Markus Reinhardt, 61, the head of police of the Swiss canton of Graubünden and chief of security at the WEF, was found dead in his hotel room. He had killed himself with his service weapon.

Markus Reinhardt had had "an alcohol problem" for quite some years, his superiors knew about it. His direct boss, the director of the Department of Justice, Barbara Janom Steiner, stated during a press conference: "His alcohol problems never affected his work".

Now the media became active in their typical fashion.

The Tages-Anzeiger in Zurich interviewed Roberto Zalunardo, the Secretary General ad interim of the Association of Swiss Police Chiefs, who said that these chiefs are under a lot of pressure, that it is very lonely at the top and that they need of course to be able to deal with all that. The reader was left with the impression that the ones who were not able to deal with this kind of pressure might turn to alcohol.

Then, the Aargauer-Zeitung interviewed the former chief of police of the Canton Aargau, Léon Borer, who said that Reinhardt's "alcohol problem" had been known for several years and that "the man could have been saved". How this could have been accomplished, he did not elaborate on.

And then, on 19 February 2010, the Tages-Anzeiger ran a story that challenged the view of Reinhardt's boss, Janom Steiner, that his alcoholism had not affected his job performance by citing several incidences - he had shown up intoxicated at work, had driven his car under the influence of alcohol, he was involved in a car accident and had seen to it that there were no offical records etc. etc.

But let me stop here. For we all know this kind of story, don't we? The government officials give you their lines, some brave journalists make efforts to unmask what they perceive to be a cover-up, and sometimes the truth does prevail ...

Well, this is the usual government/media-theatre and the problem with it is that we are supposed to take it seriously. Let me elaborate: The government of Graubünden said, among other things, that "it thought it important to distinguish between work performance and private life". No one in the press questioned this work/private life distinction. If however Mr. Reinhardt really was an alcoholic (and it surely looks that way) then such a distinction is ludicrous because an alcoholic too often cannot control his impulses (and not only when it comes to alcohol) - and that does not depend on whether he or she is at work or not.

So what did the media do? (by the way, no, I did not check whether all the media performed in exactly the same way). They tried to challenge the claim that Mr. Reinhardt's job performance was impeccable ... and in so doing fell for the trap that the government had laid out for them: the totally absurd distinction between work life and private life, that is.

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An alcoholic is an alcoholic is an alcoholic. And that means that too often he cannot control his impulses (and that is not limited to drinking) – whether he is at work or at home. In addition, and this makes him especially unpredictable, he's the typical Dr Jekyll and Mr Hyde kind: most of the time he's totally in control of himself until, all of a sudden, he completely loses it.

An alcoholic is dis-eased, in all aspects of his life. Everybody knows that. So why then do governments and media offer us such an absurd spectacle and act as if a dictinction can be made between private and professional life? Because they do what we all do: they rationalise their behaviour, justify their acts and their non-acts; they pretend to have under control what can't be controlled. Because to live with the truth seems unbearable. And when it comes to addicition, the truth is this: we do not know what triggers it, we do not know how to stop it, we are mostly powerless against it. 

If an alcoholic remains sober after treatment, therapists believe that the treatment has been successful; if an alcoholic however relapses, he is considered unfit for therapy. Fact is that nobody can really say why some (estimates range from seven to seventeen percent) can stop their drinking and others can't.

Established therapies assume that understanding the causes of our acts might lead to behaviour change. If I know why I drink I can influence my drinking. This is wishful thinking for every cause that I will find (that I like, that pleases me) can be a cause for drinking as well as for non-drinking. Which is why in AA they say that there are exactly seven reasons why somebody drinks: Monday, Tuesday, Wednesday, Thursday, Friday, Saturday, Sunday.

There is no general agreement about the nature, cause, or treatment of alcoholism“, Arnold M. Ludwig (The Alcoholic's Mind) states and the adds: „What is an alcoholic?Where does one draw the line between problem drinking and alcoholism, between alcohol dependence and addiction? Is alcoholism a disorder or a collection of disorders? Ist it a moral failing, a bad habit, or a disease? Do alcoholics have distincts personality features? Is alcoholism hereditary or learned? Does excessive drinking represent a symptomatic expression of an underlying conflict or is it the primary problem itself? Which treatment approach, if any, is most effective? Who is best qualified to help? The question can go on and on. There are no scientific answers.“

It cannot be proven whether therapy works - by a cause-and-effect methodology, that is. That however does not mean that therapy does not work. The fact that miracles can't be proven does not mean that miracles do not exist, it only means that the accepted means of proof are useless. Besides, therapy helps the therapists to have work and earn money. By the way, good therapists know that when their patients are getting better they are sometimes witnessing a miracle of which the Senegalese Wolof say, „nit nit ay garabam“, man is man's medicine.

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That the boundaries between propaganda and journalism are blurred is well known. Also, that lots of journalists are seldom more than propagandists. The problem is that they do not know it, that they are not aware of it.

When Brian Eno first visited Russia, in 1986, he made friends with Sacha, a musician whose father had been Brezhnev's personal doctor: "One day we were talking about life during "the period of stagnation" — the Brezhnev era. "It must have been strange being so completely immersed in propaganda," I said. "Ah, but there is the difference. We knew it was propaganda," replied Sacha. "That is the difference. Russian propaganda was so obvious that most Russians were able to ignore it. They took it for granted that the government operated in its own interests and any message coming from it was probably slanted — and they discounted it."

We decide something, put it out there and wait a while in order to see what will happen. If there won't be a big outcry and no resistance, because most do not understand what has been decided, then we continue – step by step, until there's no more going back“, Jean-Claude Juncker, an influential European politician from Luxemburg is quoted in Eva Herman's „Die Wahrheit und ihr Preis“ (The Price of Truth). This is not only how facts ( „fact“ stems from the Latin „facere“ = to make) are created, this is also how the agendas are set that invariably get picked up and propagated by the media.

Let's get practical: Everybody believes that for alcoholics treatment is better than punishment. This is due to the combined propaganda of psychologists and journalists. In the case of psychologists the reason is obvious – they have to make a living; in the case of journalists it can be explained with their pack-mentality. Moreover, as the linguist Geoffrey K. Pullum stated: Once the public has decided to accept something as an interesting fact, it becomes almost impossible to get the acceptance rescinded. The persistent interestingness and symbolic usefulness overrides any lack of factuality.“

This does not mean that punishment is preferable to treatment; this means that whoever believes that treatment might be the solution has very probably a too grand idea of what treatment can do for it is a field full of paradoxes and contradictions. No wonder if you consider the following (from Arnold M. Ludwig's The Alcoholic Mind):

* "Hitting bottom" is presumed to be a necessary step for recovery. even though being in dire straits, for all other illnesses, usually indicates a poor rather than favourable diagnosis.

* In many hospital treatment settings, alcoholics are immediately discharged from the program if they are presumed to be uncooperative, unmotivated, setting poor examples for others, or if they are found to be intoxicated or drinking on the premises. In other words, they are not regarded as suitable for treatment if they show evidence of their sickness; namely, an inability to control their drinking. The catch-22 is that they must remain sober in order to receive help.

* Alcoholics are regarded as "sick" - at least for purposes of hospitalization or treatment - but society tends to hold them responsible for their transgressions or crimes.

* Because alcoholism is regarded as a "disease", certain therapeutic agencies do not hold alcoholics responsible for the harm caused by past drinking, but they do regard them as responsible for their present and future behaviors, an important and interesting distinction.

* Alcoholism is a "disease" in which characteristic symptoms, such as urges and cravings to drink, can appear mysteriously at certain times, for example, during evenings and weekends, and be absent at others, as at work or at church. With the exception of other addictions, what medical diseases are so dependent on the mental expectations of the sufferers and the physical settings in which they exist?

Given this, it is difficult to imagine a more ignorant reaction than the one of the government of Graubünden. It apparently thought it sufficient that the head of police had agreed to measures set out by a medical doctor in order to „make Reinhardt master of his problem“. The media, in their usual fashion, saw to it that this ignorance was properly disseminated.

PS: In March 2000, Markus Reinhardt had ordered a finishing shot aimed at a young man who had been shooting at random on people on the streets of Chur, the capital of Graubünden. As a consequence, Reinhardt was indicted for willful homicide – he was later acquitted. The Süddeutsche Zeitung commented on 27 January 2010: „This finishing shot has never left him, said his longtime companion, national congressman Pius Segmüller to the tabloid Blick: „Since then he had certain problems. In the end it was all too much for him."

Mittwoch, 1. November 2017

Der Natur und sich selbst begegnen

Amy Liptrot ist auf den Orkneyinseln aufgewachsen, einer vom Meer umtosten, windgepeitschten Inselgruppe im Norden von Schottland zwischen Nordsee und Atlantik. Der Hof der Eltern liegt auf der Hauptinsel, auf demselben Breitengrad wie Oslo und Sankt Petersburg. Der Vater leidet an Depressionen und landet zeitweise in der Psychiatrie, die Mutter rettet sich in den Glauben, sie selber flüchtet nach London und in den Alkohol. "Ich trank, bis ich wie tot vor mich hin stierte."

Ihr Trinken wird von Jahr zu Jahr schlimmer. "Das Trinken ergriff von mir Besitz. Während andere arbeiteten und auf Pubabende verzichteten, um die nächste Stufe hinaufzuklettern, leerte ich Bierdosen am Telefon und unterdrückte das Geräusch beim Öffnen, während ich von unerfüllten Ambitionen erzählte."

Sie unternimmt ernsthafte Versuche mit dem Trinken aufzuhören, jedes Mal hält sie etwa einen Monat durch. Schliesslich beschliesst sie, das Trockenwerden an die erste Stelle zu stellen. Sie gibt  ihren Job auf, geht zum Arzt und wird an die örtliche Drogenberatung weiterverwiesen. In der Therapie, die auf dem Programm der Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker (AA) basiert, lernt sie unter anderem: "Ich werde meine Leben lang anfällig bleiben für Rückfälle und andere Formen von Sucht."

Das Entzugsprogramm ist hart, die wenigsten schaffen es. Sie lernt: Jedes Verlangen ist temporär, immer geht der Drang zu trinken vorüber. Die Gruppengespräche sind hilfreich. "Zu hören, wie Leute im Gefängnis gelebt hatten, in Krankenhäusern, unter fahrendem Volk, in Grossfamilien in Russland oder in Stepney Green zeigte mir Erfahrungswelten, die Lichtjahre entfernt waren von denen mediengesättigter Hochschulabsolventen und ihrem Genörgel auf Twitter."

Sie schafft den Entzug, doch das ist nicht das Ende, sondern erst der Anfang, denn wirklich schwierig ist es, trocken zu bleiben. Sie merkt, dass London nicht mehr richtig ist, sie geht zurück nach Orkney, dahin, wo sie sich nie zugehörig gefühlt hat – und wird wieder zum mürrischen Teenager. Doch sie trinkt nicht und weiss, dass jedes Mal, wenn sie darauf verzichtet, obwohl ihr danach ist, sie neue Nervenbahnen im Gehirn stärkt.

 Sie beschliesst, einen Winter auf Papay zu verbringen, einer der kleinsten bewohnten Inseln im äussersten Norden von Orkney, sechseinhalb Kilometer lang, gut anderthalb Kilometer breit, 70 Einwohner. "Es ist ein Trugschluss zu glauben, Insulaner könnten 'allem entfliehen': An einem so kleinen Ort müssen wir mit unseren Nachbarn mehr Kontakt pflegen als in der Stadt. Im Grossen und Ganzen kommen wir gut miteinander aus."

Die Nachrichten auf der Insel drehen sich ums Wetter, nicht um Politik. Auch wenn sie es gelegentlich vermisst, "zu sehen und gesehen zu werden, und das Gefühl, dicht am Zentrum des Geschehens zu sein", gibt es in Papay jeden Tag einen Moment, an dem ihr das Herz aufgeht. "Wenn ich mich umdrehe zum Beispiel, das Gesicht in den Nordwind halte und den Küstensaum betrachte, an dem ich gerade entlanggelaufen bin. Ich sehe Schwärme von Stärlingen, Hunderte einzelne Vögel, die sich zu fliessenden geometrischen Gebilden formieren und umformieren, um ihre Feinde auszutricksen, und einander folgen, um einen sicheren Platz für die Nacht zu finden."

Von einer Sucht zu genesen, bedeutet mit sich und seiner Umwelt ins Gleichgewicht zu kommen. Dafür ist innere Sammlung nötig und diese ist nicht für alle gleich, den einen helfen AA-Treffen, anderen Meditation und Amy Liptrot tut es vor allem gut, sich in der Natur zu bewegen (man kann das natürlich auch alles abwechselnd tun). "In Bewegung zu sein, beruhigt mich. Mein Körper ist beschäftigt und mein Geist frei."

Sie beginnt sich für Astronomie zu interessieren, geht nachts raus um Sterne zu gucken, lernt Dinge, die ihr gefallen, zum Beispiel, "dass sich peripheres Sehen am besten dazu eignet, in weite Ferne zu sehen – weil ein Gegenstand mitunter verschwindet, wenn man ihn direkt ansieht." Indem sie die Welt kennenlernt, lernt sie sich selber kennen. Es ist eine echte Bereicherung, an Amy Liptrots vielfältigen Entdeckungen teilhaben zu dürfen.

Sie setzt sich auch intensiv mit den Zwölf Schritten der AA auseinander, obwohl sie sich hauptsächlich auf ihre eigenen Therapieformen  Wandern und Schwimmen – verlässt. Sie weiss jetzt, dass Trinken keine Probleme löst und dass 'trocken zu werden' kein Moment ist, "nach dem alles besser wird, sondern ein andauernder, langsamer Prozess des Wiederaufbaus, mit regelmässigen Rückschritten, Schwankungen und Versuchungen." 

Sich dem Leben zu stellen, erfordert Mut. Nachtlichter ist ein höchst eindrückliches Dokument dieses Mutes.

Amy Liptrot
Nachtlichter
btb Verlag, München 2017