Wir alle wissen, dass wir einmal sterben werden. Die gängigste Art und Weise, damit umzugehen, ist die Verdrängung, manchmal retten wir uns auch in den Humor – auf die Frage: Wie seine Einstellung zum Tod sei?, antwortete Woody Allen einmal: Ich bin total dagegen – , die vermutlich wenigsten setzen sich ernsthaft damit auseinander. Frank Ostaseski, massgeblich beeinflusst von Elisabeth Kübler-Ross und Stephen Levine, plädiert für Letzteres.
"Ohne den Tod als Mahner neigen wir dazu, das Leben für etwas Selbstverständliches zu halten, und verlieren uns häufig in der endlosen Jagd nach Bedürfnisbefriedigung. Wenn wir den Tod öfter im Bewusstsein haben, klammern wir uns nicht mehr so sehr am Leben fest." Anders gesagt: Das Leben ist ein Wunder, das jeden Moment stattfindet. Weshalb denn auch die erste von Frank Ostaseskis Einladungen lautet: "Warte nicht."
Das einzig Beständige ist bekanntlich der Wandel. Obwohl wir das wissen, leben wir nicht gemäss dieser Wahrheit. Das ist nicht nur erstaunlich, sondern so recht eigentlich unerklärlich, denn wenn wir wirklich genau hinschauen, werden wir feststellen, dass es gar nichts anderes gibt als diesen Wandel. Wer erkennt, dass er/sie vergänglich ist und seine/ihre Lebensumstände im Fluss sind, wird eine Übereinstimmung mit dem Gesetz von Wandel und Werden erleben.
Es ist überaus hilfreich, "Zuflucht in der Vergänglichkeit zu suchen. Also nicht in der Erwartung, dass sich die Dinge so entwickeln, wie wir es erhoffen oder befürchten, sondern in der Tatsache, dass sie sich auf jeden Fall ändern, ob wir das nun wollen oder nicht."
Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben erzählt ganz viele Geschichten, die dieses "Warte nicht" (wie auch die anderen Einladungen Frank Ostaseskis) eindrücklich illustrieren. Mich haben viele von ihnen angeregt, meine Aufmerksamkeit auf diesen ständigen Wandel zu richten – indem ich mich etwa auf das Pumpen des Herzens und das Ein- und Aus-Atmen konzentrierte sowie mir (recht erfolglos) zu vergegenwärtigen versuchte, dass bei einem erwachsenen Menschen jede Sekunde 50 Millionen Zellen absterben und fast genau so viele neu entstehen. Aber eben nur fast, denn der erwachsene Mensch baut nach und nach ab.
Das Leben gehört konfrontiert. Vorbehaltlos. Frank Ostaseski zeigt an vielen Beispielen, wie das geht. Dabei gibt er nicht den über der Sache stehenden Experten, sondern zeigt sich auch mit seinen Schwächen. Das ist überaus sympathisch, auch wenn es manchmal etwas gar lieb und nett zu und her geht. So fühlte er sich nach einer schweren Herzoperation unattraktiv wie auch nicht mehr liebenswert und machte sich darüber hinaus Sorgen, man würde ihn vergessen. "Glücklicherweise war ich von Menschen umgeben, die mich trotz alledem liebten. Mein Name wurde überall in den buddhistischen Zentren auf die Altäre gesetzt, und meine Freunde und Schüler chanteten meinen Namen bei ihren Gebeten und Praktiken."
So einleuchtend und nützlich ich viele seiner Ausführungen finde, bescheiden ist der Mann nicht, der als "Der bedeutendste Vertreter der Hospizarbeit" auf dem Buchumschlag vorgestellt wird. Sicher, das mag der Verlag zu verantworten haben, doch er lobt sich auch gerne selber. "Im Jahre 2004 gründete ich das Metta Institute zur Förderung achtsamer, mitfühlender Sterbebegleitung. Ich brachte grosse Lehrer zusammen, darunter Ram Dass, Norman Fischer, Rachel Naomi Remen und andere, die einen Lehrkörper von Weltklasse bildeten." Weltklasse in Sachen Sterbegleitung?
Irritierend fand ich überdies des Autors festen Glauben "an unser grundlegendes Gutsein als Menschen" (grundlegend ist meines Erachtens eher unser unbedingter Lebenswille) sowie seine Überzeugung, die Wahl der Worte würde auch unser Handeln bestimmen. "Meine Freundin Rachel Naomi Remen drückt dies besser aus als jeder andere, wenn sie schreibt: 'Helfen, Reparieren und Dienen sind drei unterschiedliche Arten, die Welt zu verstehen. Wenn du hilfst, siehst du das Leben als etwas Schwaches. Wenn du reparierst, siehst du das Leben als etwas Zerbrochenes. Wenn du dienst, siehst du das Leben als etwas Ganzheitliches. Reparieren und Helfen mag Aufgabe des Egos sein, Dienst ist die Aufgabe der Seele."
Eine der für mich bewegendsten Geschichten in diesem Buch ereignete sich anlässlich eines Workshops, den Frank Ostaseski in Berlin leitete. Eine Frau meldete sich: "Ich habe Ihnen zugehört, als Sie über Vergebung sprachen. Aber mein Vater war Gefangener in den Konzentrationslagern, und ich kann seinen Mördern nicht vergeben. Mein Herz ist wie aus Eis." Stille. Eine andere Frau meldete sich: "Mein Herz ist auch wie aus Eis. Es fühlt sich an wie ein Stein. Mein Vater war Nazi-Offizier und als Wachmann in den Lagern. Ich weiss, dass er Menschen getötet hat. Ich kann ihm nicht vergeben." Wiederum Stille. Dann bahnten sich die beiden Frauen den Weg durch den grossen Sitzungssaal mit 250 Menschen und umarmten sich wortlos.
Die fünf Einladungen: Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben ist ein höchst empfehlenswerter Ratgeber, reich sowohl an praktischen Anregungen als auch an erstaunlichen und berührenden Geschichten, die das Leben geschrieben hat.
Frank Ostaseski
Die fünf Einladungen
Was wir vom Tod lernen können, um erfüllt zu leben
Knaur Menssana, München 2017