"Ein revolutionärer Erklärungsansatz und neue Chancen für die Therapie", verspricht der Untertitel von CLEAN: Sucht verstehen und überwinden und natürlich bin ich skeptisch, wenn der behauptete revolutionäre Erklärungsansatz dann auch noch auf der New York Times-Bestsellerliste landet, denn die New York Times und ihre Leser sind eher dem Bewahren (dem Establishment) und weniger der Revolution zuzurechnen.
Neugierig machte mich hingegen die Autorin, denn diese war früher selbst heroin- und kokainabhängig – und für Menschen, die ihre eigene Sucht zum Stillstand gebracht haben, habe ich ein offenes Ohr. Zudem: CLEAN: Sucht verstehen und überwinden erzählt nicht einfach die Geschichte von Maia Szalavitz, sondern berichtet auch von vielfältigen Erkenntnissen aus mehr als 25 Jahren Suchtforschung.
Wer versuche, Sucht präzise zu beschreiben, entdecke schnell, dass die meisten Erklärungen unwissenschaftlich seien, schreibt sie – mir selber ist solche Wissenschaftsgläubigkeit fremd. Maia Szalavitz versteht unter Sucht "ein fehlangepasstes Bewältigungsverhalten, das trotz andauernder negativer Folgen beibehalten wird" und führt aus: "Das Problem mit der heutigen Einstellung zur Sucht besteht darin, dass wir die Bedeutung des Lernens ignorieren und versuchen, die Sucht als medizinische Störung oder moralisches Versagen abzustempeln, obwohl das unpassend ist, und dass wir den runden Pflock ignorieren, den wir in das quadratische Loch getrieben haben."
Es ist beeindruckend, wie viel Wissen (nicht nur über Sucht, sondern über ganz viele seelische Schwierigkeiten) Maia Szalavitz zusammengetragen hat. So erfährt man unter anderem, dass es in Ungarn und Finnland mehr Depressive (inklusive hoher Suizidraten sowie viel Alkoholmissbrauch) gibt als anderswo, aus genetischen Gründen. Zudem ist ungemein berührend, wenn sie von ihrem eigenen Aufwachsen berichtet. "Das Wort 'intensiv' beschrieb nicht nur äusserst genau, wie ich die Welt wahrnahm; es war zudem eines der Adjektive, die andere am häufigsten benutzten, um mich oder mein Verhalten zu beschreiben. Als Teenager kämpfte ich ständig um mehr Lockerheit."
In den USA bildet das 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker (AA) den Kern der Therapie der meisten Drogenprogramme. Obwohl die 12-Schritte, die Maia Szalavitz als christliche Suchttherapie charakterisiert, ihr halfen, die ersten fünf Jahre ihrer Genesung durchzustehen, ist sie keine Befürworterin des Programms. "Es gefiel mir nicht, dass Menschen gezwungen wurden, 'ganz unten' zu landen, und dass Moral und Medizin vermischt wurden." Nun ja, die Lösung findet sich im AA-Spruch, den sie auch selber zitiert: "Nimm, was dir gefällt, und lass den Rest liegen."
CLEAN: Sucht verstehen und überwinden richtet sich hauptsächlich an nordamerikanische Leser, denn nur dort gibt es die institutionalisierte 12-Schritte-Therapie, zu der auch Straftäter von Richtern verdonnert werden können. Solcher Zwang dürfe weder Mittelpunkt des Entzugs noch Teil einer professionellen Behandlung sein, meint die Autorin. Recht hat sie, obwohl man sich fragen kann, weshalb denn Zwang einen so ausschliesslich schlechten Ruf hat – ohne inneren oder äusseren Druck (das verstehe ich unter Zwang) wird wohl kaum jemand sein Verhalten ändern.
Maia Szalavitz' Hochachtung vor Studien und Experten, die das ganze Buch durchzieht, finde ich befremdlich. "Niemand würde einem Gehirnchirurgen trauen, dessen einzige 'Ausbildung' darin bestand, dass ihm ein Tumor entfernt wurde. Ebenso dürfen wir nicht glauben, dass ein ehemaliger Süchtiger ein Experte ist." Derart Äpfel mit Birnen zu vermischen (eine Operation, die auch ausgeprägte handwerkliche Fähigkeiten verlangt, ist wohl kaum mit einem Beratungsgespräch zu vergleichen), ist schon recht abstrus, nicht zuletzt, da die Autorin selber mit Hilfe ehemaliger Süchtiger genesen ist. Auch scheint sie die Medizin für eine Wissenschaft zu halten, doch obwohl diese mit wissenschaftlichen Methoden arbeitet, ist sie es nicht (siehe auch: Gesetze
der Medizin).
CLEAN: Sucht verstehen und überwinden wehrt sich gegen Stigmatisierung und plädiert für neurologische Vielfalt. Neurologische Unterschiede, die etwa zu Autismus oder anderen diagnostizierbaren 'Störungen' führen, verdienen genauso unseren Respekt wie alle anderen Unterschiede zwischen Menschen. "Wenn wir das Verlangen und den Drang, die bei Süchtigen fehlgeleitet werden, in die richtige Richtung lenken, sind die Ergebnisse erstaunlich."
Maia Szalavitz
CLEAN: Sucht verstehen und überwinden
Ein revolutionärer Erklärungsansatz
und neue Chancen für die Therapie
mvgverlag, München 2017.