Der Titel ist unserem Marketing-Zeitalter geschuldet, soll also nicht wörtlich genommen werden. Er suggeriert, dass man in diesem Buch so recht eigentlich alles zum Thema Sucht finden wird – und so ist es, zu meiner nicht gelinden Überraschung, denn auch. Was Sie schon immer über Sucht wissen wollten ist überaus inhaltsreich und informativ, ein umfassendes Nachschlagewerk zu so ziemlich allen denkbaren Aspekten rund um die Sucht.
Der Autor Werner Gross ist niedergelassener Psychotherapeut und Coach und beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Sucht. Mit diesem Buch, so die Verlagsinformation, wendet er sich an Betroffene, Angehörige und Freunde, Selbsthilfegruppen, Berater in Suchtberatungsstellen und -kliniken, Psychotherapeuten, Berater und Ärzte. Schwer vorstellbar, wer da noch fehlen könnte.
Im Vorwort lese ich, wovon das Buch handelt: "Aber was genau ist eigentlich Sucht? Was für Auswirkungen hat sie auf die Betroffenen? Wie und in welchen (Lebens-)Bereichen zeigt sie sich? Was sind die wichtigsten Suchtkriterien? Wie entwickelt sich Sucht – und wo sind die Übergänge vom normalen zum süchtigen Verhalten? Ab wann spricht man von Missbrauch? Wo beginnt die Abhängigkeit, die Sucht? Was ist die Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Formen der Sucht – und wo sind die Unterschiede?"
Doch es geht auch noch um andere Fragen. "Wo finde ich (oder mein süchtiger Angehöriger) Hilfe? Welche Hilfssysteme gibt es überhaupt? Welche Berufsgruppen beschäftigen sich mit dem Thema Sucht? Wie steht es um Selbsthilfe und welche Selbsthilfegruppen im Bereich Sucht gibt es?"
Ich habe Was Sie schon immer über Sucht wissen wollten nicht von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, sondern darin geblättert und mich dann immer wieder in einen Abschnitt hineingelesen. Und bin dabei ständig von Neuem angeregt worden, selbständig weiter zu denken (und das ist einer der wesentlich Gründe, weshalb ich mich in Bücher vertiefe).
Nehmen wir den Abschnitt mit dem Titel "'Infoholics' oder: Leben im Zeitraffer". Werner Gross geht das Thema (wie überhaupt alle Themen) unaufgeregt und sachlich an, macht darauf aufmerksam, dass in unseren hektischen Zeiten immer weniger Menschen Stille und Ruhe aushalten. "So ist auch der Griff nach dem Smartphone ein Schutzmechanismus, um nicht über sich selbst und etwaige aktuelle Probleme nachdenken zu müssen. Durch die ständig verfügbare Ablenkung muss ich mich nicht mit tieferliegenden u.U. schmerzhaften Themen beschäftigen." Gleichzeitig weist er darauf hin, dass es jeder Generation aufgegeben ist, mit neuen technischen Errungenschaften klar zu kommen – was auch den meisten gelingt.
"Ist das wirklich Sucht?" ist ein anderes Thema, mit dem sich der Autor befasst. Wonach man süchtig wird, ist irrelevant, denn: "Letztendlich kann jede Tätigkeit süchtig entgleisen." Werner Gross sieht die Sucht als ein Grundproblem unserer Konsumgesellschaft, denn deren Leitsatz sei: "Noch mehr, noch grösser, noch besser, noch bequemer." Die Folge davon ist, dass wir uns nicht mehr nach unseren Grundbedürfnissen ausrichten, sondern nach dem, "was uns angeboten oder eingeredet wird." Was nottut, ist "eine gesellschaftliche Rückbesinnung auf Lebenswerte, die ein sinnvolles und lustvolles Leben auch ohne Drogen oder süchtige Verhaltensweisen möglich macht" sowie "eine eindeutige, von allen Experten akzeptierte Begriffsbestimmung der Sucht zu finden." Letzteres ist deswegen nötig, da auch stoffungebundene Süchte das Alltagsleben beeinträchtigen und als Krankheiten anerkannt gehören.
Beeindruckend an diesem Buch fand ich insbesondere die Fähigkeit des Autors auf knappem Raum Wesentliches darzustellen, denn das ist eine Kunst, wie jeder weiss, der selber schreibt. Und ganz besonders gefallen hat mir, dass in diesem Buch auch viel Witz Platz gefunden hat. So sind den einzelnen Themen jeweils zum Schmunzeln einladende Zitate vorangestellt. Eines meiner liebsten stammt von Wilhelm Busch und leitet die Rubrik "Legale Drogen" ein: "Es ist so mit Tabak und Rum: Erst ist man froh, dann fällt man um."
Werner Gross
Was Sie schon immer über Sucht wissen wollten
Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2016