Es gibt viele Gründe, Bücher zu lesen. Um den Horizont zu erweitern, um getröstet zu werden, um sich nicht alleine zu fühlen, um der Welt zu entfliehen. Mir selber ist vor allem wichtig die Identifikation. Wie vielen Jugendlichen so hat auch mir die Hermann Hesse-Lektüre den Weltschmerz gelindert.
Bücher können "seelisch verwendbar" sein, wie es so wunderbar treffend in Doktor Kästners Lyrischer Hausapotheke heisst und selbstverständlich haben sie auch das Potential, zur Sucht zu werden. Doch davon soll hier nicht die Rede sein, sondern vom Gegenteil, vom Lesen als Medizin, wie Andrea Gerk ihr sehr gelungenes Werk überschrieben hat.
Lesen bedeutet mir auch immer wieder Staunen. Etwa darüber, dass Lucrez zu einer Zeit, in der christliche Dogmen das Denken und Handeln der Menschen bestimmten, mit seinem De rerum natura ein atomistisches Weltbild entwarf, das zeigt, dass es auch damals Freigeister gab, die nicht an eine göttliche Vorsehung glaubten.
Es ist höchst beeindruckend, was die sehr belesene Andrea Gerk da alles zusammengetragen hat. So erfährt man etwa, dass das Lesen bei jungen Straftätern in Dresden als pädagogische Strafmassnahme angewandt wird. "Siebzig bis hundert Buchbesprechungen werden in Dresden pro Jahr verordnet zu Themen wie Gewalt, Drogen, Fremdenfeindlichkeit, Sucht, sexueller Missbrauch." Oder wie wichtig das Zuhören ist. Anstatt die übliche Krankengeschichte abzufragen, fragt zum Beispiel eine amerikanische Medizinerin zu Beginn der Konsultation: "Bitte erzählen Sie mir, was Sie glauben, was ich über Ihre Situation wissen sollte." Das nennt sich "Narrative Medizin" und dazu gehört, genau hinzuhören "wie ein Patient seine Leidensgeschichte schildert, aber auch, wie er sein Umfeld, seine Biografie darstellt."
Wir leben ja in einer Zeit empirischer Nachweise, wo nichts vor unserem Drang zu messen sicher ist. Auch nicht das Geheimnis des Lesens. "Wenn empirisch nachgewiesen werden kann, weshalb Lesen Vergnügen bereitet oder wie Spannung und Entspannung entstehen, könnten solche Erkenntnisse unter anderem dazu beitragen, die Leseförderung zu optimieren."
Mir leuchtet zwar nicht ein, weshalb ständig irgendetwas optimiert werden soll (eine Zeitkrankheit!) und ziehe das Geheimnis dem Wissen oftmals vor, doch andererseits erwarte ich von Büchern eben auch, dass sie mir Sachen zeigen, auf die ich selber wohl nicht gekommen wäre. Und in dieser Hinsicht ist Lesen als Medizin eine echte Bereicherung, denn da wimmelt es geradezu von phantasieanregenden Hinweisen. Für den Büchernarr ist dieses Werk eine wahre Schatztruhe.
Zudem wird man darüber informiert, wie "Biblio- und Poesietherapeuten, Schreibwerkstätten und Lesegruppen zu Werke gehen", dass es bereits im 18. Jahrhundert in psychiatrischen Kliniken üblich gewesen sei, "Lesestoff wie Medizin zu verabreichen" und dass die "vermeintliche Sucht- und Seuchengefahr des Romanlesens" unter dem Stichwort 'Lesesucht' in die Literaturgeschichte eingegangen ist.
Dass und wie wundersam die Literatur wirken kann, zeigt Lesen als Medizin unter anderem am Beispiel ganz vieler Autoren. Und an Andrea Gerks eigenem Beispiel. Dass und wie sie darüber schreibt, ist auch eine Form der Therapie. Und vielleicht sogar wirksamer als das Lesen. Nur eben: ohne das Lesen wäre dieses Schreiben wohl kaum möglich gewesen.
Andrea Gerk
Lesen als Medizin
Die wundersame Wirkung der Literatur
Rogner & Bernhard, Berlin 2015