"Am schlimmsten ist die Überzeugung, dass es nie wieder aufhört." So beginnt dieses Buch und ich bin sofort drin. Schade nur, dass sich die anfängliche Spannung schon bald einmal verliert.
Im November 2006 unternimmt Heide Fuhljahn eine Pressereise nach Norwegen. Ihr Freund hat sich gerade von ihr getrennt, sie geht einmal in der Woche zur Psychotherapie, schläft schlecht und fühlt sich weder dem Leben noch ihrer journalistischen Aufgabe gewachsen: "Ich verstehe kaum ein Wort, obwohl mein Englisch ganz gut ist. Aber nicht, wenn es um Fischfang geht, um seine wissenschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen." Sie hat Angst, fühlt sich unter Druck, denkt jeden Tag an Selbstmord, nimmt Beruhigungsmittel und bleibt "trotz der hohen Dosis in einer nicht enden wollenden Panikattacke stecken." Als sie sich später Fotos von dieser Reise ansieht, sieht sie sich strahlend lächeln, kann sie nicht den geringsten Hinweis auf ihr damaliges Martyrium entdecken.
"Meistens wachte ich früh um sechs Uhr auf – und schon war der Tag gelaufen." Alles ist ihr zu mühsam, auf nichts hat sie Lust. "Alles, was ich tat, wurde nur noch danach bewertet, wie sehr es mich erschöpfte." Auch lesen mag sie nicht mehr, jedenfalls nichts Anspruchsvolles. "Mein Nicht-lesen-Können empfand ich als persönliches Versagen, es war mir nicht klar, dass es eine Nebenwirkung der Depression war."
In der Klinik teilt sie ihr Zimmer mit der siebzigjährigen Burgunde, die sie mit einem detaillierten Redefluss überflutet, dem sie sich ausgeliefert fühlt. Heute nicht mehr, hält sie dazu fest, heute würde sie in einer solchen Situation sagen: "Ich möchte mich im Moment nicht unterhalten." Oder: "Ich möchte gern lesen." Nur eben: auch Heide Fuhljahn leidet an detaillierter Redseligkeit. Muss der Leser/die Leserin wirklich wissen, dass sich der Psychologe mit "Hallo, ich bin Dr. Müller" vorstellt oder was genau bei der Eintrittsuntersuchung in der Klinik vorgefallen ist: "... haute sie mir mit einem Hämmerchen aufs Knie, das zu ihrer Zufriedenheit reflexhaft zuckte. Danach strich sie mir über Arme und Beine und fragte: 'Fühlen Sie das?'"
Beim Satz: "Meine Depression begann in meiner Kindheit" merkte ich, wie sich in mir Unwillen regte. Nicht schon wieder die Kindheit, stöhnte es da in mir. Und umso mehr bei solchen Sätzen: "Im Grunde war ich schon immer depressiv. Immer heisst: bereits in der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Doch letztlich weiss ich nur wenig von meinen ersten neun Lebensjahren ...". Das geht uns wohl allen so, weshalb man sich auch mit Spekulationen über die eigene Kindheit zurückhalten sollte.
"Neben meinen Depressionen und meinen Essstörungen leide ich auch an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, unter Medizinern als Borderline-Störung bekannt." Es spricht für die Autorin, dass sie bei ihren Ausführungen immer wieder auf die vielen Überlappungen der psychischen Störungen hinweist, dass sie in eingeschobenen Interviews Spezialisten befragt und dass sie sich traut, Wünsche zuzugeben, die man wohl kaum anders als unreif (doch sind das Wünsche nicht fast immer?) nennen kann: "Noch heute, mit neununddreissig Jahren, sehne ich mich nach einer Bilderbuchfamilie, nach stabilen Verhältnissen."
"Kalt erwischt" bestätigte bei mir den Eindruck, dass psychischen Störungen, von der Depression bis zu Borderline, von der Sucht bis zur Neurose, gemeinsam ist, dass die darunter leidenden Menschen ständig mit den Bedingungen des menschlichen Lebens hadern, dass sie die Realität (und damit auch sich selber) nicht akzeptieren können. Heide Fuhljahn hat für sich einen Weg gefunden, der möglicherweise auch für andere funktionieren könnte: "Meldet sich die Depression doch einmal, dann weiss ich mir zu helfen. Ich streiche alles, was nicht unbedingt sein muss, gönne mir Ruhe, stehe zu meinen Gefühlen und versuche, mir meine Bedürfnisse zu erfüllen. Die Frage ist nicht mehr: Was muss ich?, sondern: Was brauche ich? Ich verzichte dann darauf, E-Mails zu schreiben oder Staub zu saugen. Ich weiss: Das kann ich immer noch tun, wenn es mir wieder besser geht. Nur kein Druck."
Heide Fuhljahn
Kalt erwischt
BRIGITTE-Buch im Diana Verlag
Diana Verlag, München 2013
"Meistens wachte ich früh um sechs Uhr auf – und schon war der Tag gelaufen." Alles ist ihr zu mühsam, auf nichts hat sie Lust. "Alles, was ich tat, wurde nur noch danach bewertet, wie sehr es mich erschöpfte." Auch lesen mag sie nicht mehr, jedenfalls nichts Anspruchsvolles. "Mein Nicht-lesen-Können empfand ich als persönliches Versagen, es war mir nicht klar, dass es eine Nebenwirkung der Depression war."
In der Klinik teilt sie ihr Zimmer mit der siebzigjährigen Burgunde, die sie mit einem detaillierten Redefluss überflutet, dem sie sich ausgeliefert fühlt. Heute nicht mehr, hält sie dazu fest, heute würde sie in einer solchen Situation sagen: "Ich möchte mich im Moment nicht unterhalten." Oder: "Ich möchte gern lesen." Nur eben: auch Heide Fuhljahn leidet an detaillierter Redseligkeit. Muss der Leser/die Leserin wirklich wissen, dass sich der Psychologe mit "Hallo, ich bin Dr. Müller" vorstellt oder was genau bei der Eintrittsuntersuchung in der Klinik vorgefallen ist: "... haute sie mir mit einem Hämmerchen aufs Knie, das zu ihrer Zufriedenheit reflexhaft zuckte. Danach strich sie mir über Arme und Beine und fragte: 'Fühlen Sie das?'"
Beim Satz: "Meine Depression begann in meiner Kindheit" merkte ich, wie sich in mir Unwillen regte. Nicht schon wieder die Kindheit, stöhnte es da in mir. Und umso mehr bei solchen Sätzen: "Im Grunde war ich schon immer depressiv. Immer heisst: bereits in der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Doch letztlich weiss ich nur wenig von meinen ersten neun Lebensjahren ...". Das geht uns wohl allen so, weshalb man sich auch mit Spekulationen über die eigene Kindheit zurückhalten sollte.
"Neben meinen Depressionen und meinen Essstörungen leide ich auch an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, unter Medizinern als Borderline-Störung bekannt." Es spricht für die Autorin, dass sie bei ihren Ausführungen immer wieder auf die vielen Überlappungen der psychischen Störungen hinweist, dass sie in eingeschobenen Interviews Spezialisten befragt und dass sie sich traut, Wünsche zuzugeben, die man wohl kaum anders als unreif (doch sind das Wünsche nicht fast immer?) nennen kann: "Noch heute, mit neununddreissig Jahren, sehne ich mich nach einer Bilderbuchfamilie, nach stabilen Verhältnissen."
"Kalt erwischt" bestätigte bei mir den Eindruck, dass psychischen Störungen, von der Depression bis zu Borderline, von der Sucht bis zur Neurose, gemeinsam ist, dass die darunter leidenden Menschen ständig mit den Bedingungen des menschlichen Lebens hadern, dass sie die Realität (und damit auch sich selber) nicht akzeptieren können. Heide Fuhljahn hat für sich einen Weg gefunden, der möglicherweise auch für andere funktionieren könnte: "Meldet sich die Depression doch einmal, dann weiss ich mir zu helfen. Ich streiche alles, was nicht unbedingt sein muss, gönne mir Ruhe, stehe zu meinen Gefühlen und versuche, mir meine Bedürfnisse zu erfüllen. Die Frage ist nicht mehr: Was muss ich?, sondern: Was brauche ich? Ich verzichte dann darauf, E-Mails zu schreiben oder Staub zu saugen. Ich weiss: Das kann ich immer noch tun, wenn es mir wieder besser geht. Nur kein Druck."
Heide Fuhljahn
Kalt erwischt
BRIGITTE-Buch im Diana Verlag
Diana Verlag, München 2013