Mittwoch, 30. Oktober 2013

Kalt erwischt

"Am schlimmsten ist die Überzeugung, dass es nie wieder aufhört." So beginnt dieses Buch und ich bin sofort drin. Schade nur, dass sich die anfängliche Spannung schon bald einmal verliert.

Im November 2006 unternimmt Heide Fuhljahn eine Pressereise nach Norwegen. Ihr Freund hat sich gerade von ihr getrennt, sie geht einmal in der Woche zur Psychotherapie, schläft schlecht und fühlt sich weder dem Leben noch ihrer journalistischen Aufgabe gewachsen: "Ich verstehe kaum ein Wort, obwohl mein Englisch ganz gut ist. Aber nicht, wenn es um Fischfang geht, um seine wissenschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen." Sie hat Angst, fühlt sich unter Druck, denkt jeden Tag an Selbstmord, nimmt Beruhigungsmittel und bleibt "trotz der hohen Dosis in einer nicht enden wollenden Panikattacke stecken." Als sie sich später Fotos von dieser Reise ansieht, sieht sie sich strahlend lächeln, kann sie nicht den geringsten Hinweis auf ihr damaliges Martyrium entdecken.

"Meistens wachte ich früh um sechs Uhr auf – und schon war der Tag gelaufen." Alles ist ihr zu mühsam, auf nichts hat sie Lust. "Alles, was ich tat, wurde nur noch danach bewertet, wie sehr es mich erschöpfte." Auch lesen mag sie nicht mehr, jedenfalls nichts Anspruchsvolles. "Mein Nicht-lesen-Können empfand ich als persönliches Versagen, es war mir nicht klar, dass es eine Nebenwirkung der Depression war."

In der Klinik teilt sie ihr Zimmer mit der siebzigjährigen Burgunde, die sie mit einem detaillierten Redefluss überflutet, dem sie sich ausgeliefert fühlt. Heute nicht mehr, hält sie dazu fest, heute würde sie in einer solchen Situation sagen: "Ich möchte mich im Moment nicht unterhalten." Oder: "Ich möchte gern lesen." Nur eben: auch Heide Fuhljahn leidet an detaillierter Redseligkeit. Muss der Leser/die Leserin wirklich wissen, dass sich der Psychologe mit "Hallo, ich bin Dr. Müller" vorstellt oder was genau bei der Eintrittsuntersuchung in der Klinik vorgefallen ist: "... haute sie mir mit einem Hämmerchen aufs Knie, das zu ihrer Zufriedenheit reflexhaft zuckte. Danach strich sie mir über Arme und Beine und fragte: 'Fühlen Sie das?'"

Beim Satz: "Meine Depression begann in meiner Kindheit" merkte ich, wie sich in mir Unwillen regte. Nicht schon wieder die Kindheit, stöhnte es da in mir. Und umso mehr bei solchen Sätzen: "Im Grunde war ich schon immer depressiv. Immer heisst: bereits in der Zeit vor dem Tod meiner Mutter. Doch letztlich weiss ich nur wenig von meinen ersten neun Lebensjahren ...". Das geht uns wohl allen so, weshalb man sich auch mit Spekulationen über die eigene Kindheit zurückhalten sollte.

"Neben meinen Depressionen und meinen Essstörungen leide ich auch an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung, unter Medizinern als Borderline-Störung bekannt." Es spricht für die Autorin, dass sie bei ihren Ausführungen immer wieder auf die vielen Überlappungen der psychischen Störungen hinweist, dass sie in eingeschobenen Interviews Spezialisten befragt und dass sie sich traut, Wünsche zuzugeben, die man wohl kaum anders als unreif (doch sind das Wünsche nicht fast immer?) nennen kann: "Noch heute, mit neununddreissig Jahren, sehne ich mich nach einer Bilderbuchfamilie, nach stabilen Verhältnissen."

"Kalt erwischt" bestätigte bei mir den Eindruck, dass psychischen Störungen, von der Depression bis zu Borderline, von der Sucht bis zur Neurose, gemeinsam ist, dass die darunter leidenden Menschen ständig mit den Bedingungen des menschlichen Lebens hadern, dass sie die Realität (und damit auch sich selber) nicht akzeptieren können. Heide Fuhljahn hat für sich einen Weg gefunden, der möglicherweise auch für andere funktionieren könnte: "Meldet sich die Depression doch einmal, dann weiss ich mir zu helfen. Ich streiche alles, was nicht unbedingt sein muss, gönne mir Ruhe, stehe zu meinen Gefühlen und versuche, mir meine Bedürfnisse zu erfüllen. Die Frage ist nicht mehr: Was muss ich?, sondern: Was brauche ich? Ich verzichte dann darauf, E-Mails zu schreiben oder Staub zu saugen. Ich weiss: Das kann ich immer noch tun, wenn es mir wieder besser geht. Nur kein Druck."

Heide Fuhljahn
Kalt erwischt
BRIGITTE-Buch im Diana Verlag
Diana Verlag, München 2013

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Psychoanalytische Interpretationen

Stephen Grosz berichtet in diesem Buch, dessen englischer Titel (The Examined Life. How we lose and find ourselves) mich neugieriger macht als der deutsche, von seiner Arbeit als Psychoanalytiker. Es sei ein Buch über Veränderung, schreibt er im Vorwort, und da Veränderung und Verlust eng zusammenhängen, durchziehe Verlust dieses Buch. Weshalb ihm auch ein inspirierendes Zitat von Andre Dubus II vorangestellt ist: "Wir gewinnen, wir verlieren, und wir müssen uns um Dankbarkeit bemühen, aber auch darum, von ganzen Herzen anzunehmen, was nach dem Verlust noch bleibt vom Leben."

Ich bin mir gar nicht sicher, ob, wie der Autor behauptet, Verlust wirklich das Hauptthema dieses Buches ist, mein Eindruck war das jedenfalls nicht, denn dazu sind die Geschichten viel zu unterschiedlich.

Die erste Geschichte handelt von Peter, einem siebenundzwanzigjährigen Statiker, der versucht hatte, sich umzubringen. Peter schwankte zwischen zwei Extremen, Mitmachen oder radikaler Bruch, ein Muster, dem er auch in seiner Analyse treu blieb: er brach die Analyse ab. Zwei Monate später erhält der Analytiker ein Schreiben von Peters Verlobter: Peter habe sich umgebracht. Weitere sechs Monate später findet Grosz auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht von Peter, er sei nicht tot, ob er vorbei kommen könne. Die Erklärung? Das Schreiben seiner Verlobten hatte er selber verfasst. Er hatte den Drang zu schockieren, so der Analytiker.

"Die Frau, die nicht lieben wollte" ist nicht nur eine Sammlung von ganz verschiedenartigen Fallgeschichten, der Leser (und die Leserin) erfahren auch, wie der Analytiker Grosz das Verhalten der Beteiligten interpretiert. Joshua etwa, der nach der Geburt seines Sohnes zu einer Prostituierten geht, doch mit ihr keinen Sex hat. Er wolle sie davon überzeugen, mit der Prostitution aufzuhören, wolle ihr einen Platz in der Welt verschaffen, sagt er. Er würde wie eine Mutter klingen, die über ihr Baby rede, meint dazu der Analytiker. Und: "Joshua war einsam. Mehr noch: Er war eifersüchtig auf die Nähe, die Frau und Sohn miteinander verband. Da er keine Möglichkeit sah, daran teilzunehmen, konnte Joshua auch seinen Platz als Vater nicht finden, eine Unfähigkeit, die für ihn war, als ob ihn seine Frau verliesse. Was er fröhlich eine Dummheit genannt hatte, war in Wirklichkeit also ein Racheakt."

Ein weiterer Patient, Philip, war ein notorischer Lügner, der für die Leute, die er belog, kein Mitgefühl aufbringen konnte. Dazu Grosz: "Philips Lügen waren kein Versuch, sich Vertrauen zu erschwindeln - auch wenn sie manchmal dazu führten. Lügen waren seine Art, Nähe zu bewahren, wie er sie kannte, seine Art, an der Mutter festzuhalten." Natürlich klingt diese Schlussfolgerung ohne die dazugehörige Geschichte ziemlich absurd. Neugierig geworden? Also dann: die dazugehörige Geschichte ("Über Geheimnisse") lesen.

Mich haben Grosz' Interpretationen und Folgerungen nicht immer überzeugt. In der Phantasie einer jungen, unverheirateten Frau, die sich vorstellt, beim Umdrehen des Wohnungsschlüssels würde die ganze Wohnung explodieren, sieht er etwas Gesundes am Werk: "Einen Moment lang machte ihr diese Phantasie Angst, doch die Angst bewahrte sie letztlich vor dem Gefühl der Einsamkeit." Im Falle einer anderen jungen Frau, die sich nicht entscheiden konnte, führt er das auf verlorene Gefühle aus der Kindheit zurück.

Die Geschichten in diesem Band sind nicht gerade alltäglich (da schildert etwa einer ein Haus in Frankreich, das ihm in allen Lebensumständen Sicherheit gewähre und dann erfährt man, dass es das Haus gar nicht gibt) und sie sind sehr kurz, er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren, meinte der Autor in einem Interview. Bei einer der Geschichten lässt sich das Wesentliche sogar mit dem Titel zusammenfassen: "Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen."

Stephen Grosz
Die Frau, die nicht lieben wollte
und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
S. Fischer, Frankfurt am Main 2013

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Vingt-quatre heures

Je vous assure: il ne s'agit que de commencer. Ensuite, vous serez aidés par des gens comme vous exactement et qui ont connu les mêmes problèmes que vous (...) Surtout pas de grandes résolutions, pas d'engagements définitifs à l'égard de vous-même. Ne vous jurez pas de ne jamais boire. Rien que d'y penser, on est pris de panique. Dites-vous seulement: je ne toucherai pas à l'alcool pendant vingt-quatre heures. C'est tout. Vingt-quatre heures. Ne pensez pas à un moment de plus.

Joseph Kessel
Avec les Alcooliques Anonymes

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Live Through This

"We're all damaged. Every one of us. Everything can be traced back to that moment where we realized, as small children, that things were absolutely not okay. My moment was realizing - at about age three - that the grown-ups around me didn't believe me. I've had lifelong issues with not being believed. And within my own reality, looking back. I wasn't. I was always scolded for pretending to be in pain. If I fell and hurt myself. I was told time and time again that I should stop trying so hard to get attention."
This happens to be the first paragraph from the foreword by Amanda Palmer ... and I've felt immediately hooked. And even more so when I read her last paragraph:
"So.
Take pen to paper, take sharpie to body, take fingers to ukulele, take phone-camera to bathroom to mirror to naked body. Just make something, anything. And make something not to become known to the world - but to become known to yourself.
The only way is fucking through.
Believe me."

"Live Through This", writes Sabrina Chap in her preface, "is a collection of visual and written essays by women artists who have dealt with self-destruction, and lived to tell the story." While each woman has her own answer, this book is not meant as an answer but an offer for discourse, "as a way to help women begin to understand the potential in the power of their self-destructive acts." After briefly wondering whether males like me are allowed to read this work, I started with the first story - and was disappointed. The first sex the protagonist had wasn't terribly great (whose was?), she played with the idea of killing herself (although that seemed completely unrelated to losing her virginity) and later on became a sexologist. It is of course possible (and probable) that this lady experienced quite some suffering in her life but she definitely lacks the talent to convey it.

The first text that gripped me ("It had been 72 hours since my lover left me alone with my brain, and slowly I tried to be me again.") was "Fighting Fire with Acid Rain", an illustrated story on coming down by Cristy C. Road who "will possibly venture into the world of art galleries, but would much rather not think too much about the future."

And then there is "Total Disaster: Sketching Sanity" by Fly who states that "drawing and writing have always helped me to focus, relax and situate myself within constantly shifting, sometimes scary but always captivating environments." From her I learned (not for the first time but it is good to be reminded) that people's "individual imbalances are so varied that it's really important not to just apply one formula to everybody."

From the "Slash an' Burn"-piece by Inga M. Muscio: "Joe B., Liz and I had ongoing and historically entrenched vendettas, not unlike Bosnia, Serbia and Croatia. Nick was our Switzerland. He was the only person in the family who offered peace and laughter on a guaranteed basis. I adored him." I've never come across a more peculiar, and funny, idea of Switzerland.

"My family wrote stories, painted pictures. Art was a simple act of survival and survival was an art form for us" I read in Silas Howard's "Friends as Heroes" and of course she then had all my attention, and it was well-deserved.

And. then there was the captivating text by an anonymous Brooklyn-based dancer, choreographer, and dance educator. And, "Creating Your Own World" by Swoon who felt cursed because a lot of people around her were spiraling out of control. "Writing and drawing helped me access my core and deal with a lot of emotions as a teenager." And, Nan Goldin's "Self-Portraits." And ...

At the end of the book there are some very direct questions that get very varied answers, some of them truly original. For instance, to "What do you do when you're feeling self-destructive?", Nicole Blackman says: "Take a nap." That is really good advice, see also this link here, although, given that this is supposed to be a book "on creativity and self-destruction", I wonder whether it would qualify as creative ...

Live Through This
On Creativity and Self-Destruction
Edited by Sabrina Chap
Seven Stories Press, New York 2012

Mittwoch, 2. Oktober 2013

Über Neurosen

... ich habe meine Defizite als zu mir gehörig begriffen und sie, wenn auch notgedrungen, akzeptiert. Wenn ich meine Restlebenszeit darauf verwenden würde, mir meine Neurosen abzutrainieren, bliebe kaum noch Zeit für andere Sachen. Beispiel Höhenangst. Anstatt eine mehrjährige Therapie anzutreten, meide ich Berge und hohe Gebäude, geht auch.

Heinz Strunk
In Afrika