Mittwoch, 30. Januar 2013

Ich hör jetzt auf

Das ist ein ärgerliches und so recht eigentlich ziemlich überflüssiges Buch, weil man viel banaler eigentlich nicht über Sucht schreiben kann. Ein Beispiel soll genügen:
"Die Rehabilitation muss oberste Priorität haben – und zwar auf täglicher Basis. Der Genesungsprozess beinhaltet eine mentale Umorientierung, wobei man sich bewusst mit den eigenen Denkmustern auseinandersetzt. Die Aufmerksamkeit wird auf den inneren Prozess gelegt – aber seien Sie freundlich und nachsichtig mit sich. Heilung und Wachstum benötigen Zeit. Wann immer Sie in störende Denkmuster zurückfallen, nehmen Sie diese als einen Teil Ihrer selbst an, dem Sie mit Geduld und Nachsicht begegnen. Auch Gebete helfen, die Anfangszeit durchzustehen. Es geht nicht um das Streben nach Fehlerlosigkeit, sondern um die Teilnahme am Leben, um das Sammeln von Erfahrungen. Erlauben Sie sich, in Ihrem eigenen Tempo weiterzumachen, auch wenn es Ihnen langsam erscheint. So wie ein Kind am Anfang ein Rad mit Stützrädern fährt, werden auch Sie eines Tages dieser Phase entwachsen."

Nichts von dem, was Jasmin Rogg hier schreibt ist falsch (obwohl: Geduld und Nachsicht sind bei Sucht häufig ganz fehl am Platz), doch wenn man so allgemein bleibt, haben solche Aussagen den Wert von Kalendersprüchen. Nur eben, die Wahrheit ist konkret. Leider kommen selbst die durchaus konkreten Erlebnisberichte der Alkoholiker in diesem Band wenig überzeugend daher. Das liegt daran, dass dieses Buch keine Erfahrungen vermittelt, sondern Gemeinplätze aneinanderreiht.

Da es nicht ausbleiben kann, dass auf über 200 Seiten Text auch Nützliches und Hilfreiches zu erfahren ist, hier einige der Stellen, die mich angesprochen haben:

"Das 'ismus' im Alkoholismus bezieht sich weniger auf das Trinken selbst – es geht hier mehr um eine überreizte und pathologische Reaktion auf die Realität und das unwiderstehliche Bedürfnis, ihr zu entfliehen."

"Neue Forschungsergebnisse legen die Existenz eines Alkoholismus-Gens nahe, das einen Mangel an Dopamin-Rezeptoren im Gehirn des Süchtigen verursacht."

"Die Anonymen Alkoholiker haben deshalb das Motto ' Zieh dich an und zeig dich, egal, wie du dich fühlst' entwickelt – etwas, das für andere Menschen eigentlich selbstverständlich ist. Die Idee dahinter ist, dass Anteilnahme am eigenen Wohlergehen wichtig ist und Depressionen entgegenwirkt, weil das Unterbewusstsein die Meldung erhält: 'Ich kümmere um mich – alles ist gut.' Und man fühlt sich besser."

Die überzeugendsten Einsichten, die Jasmin Rogg in diesem Buch vermittelt, stammen von den Anonymen Alkoholikern. Und das legt sie auch offen. Warum also nicht gleich zum Blauen Buch der Anonymen Alkoholiker greifen? Weil man dann ein paar schöne Zitate verpassen würde, etwa dieses hier von M. Scott Peck: "Psychische Gesundheit ist Hingabe an die Realität um jeden Preis ...".

Jasmin Rogg
Ich Hör Jetzt auf
Südwest Verlag, München 2012

Mittwoch, 23. Januar 2013

Drüberleben

Wer schon einmal mit Menschen zu tun hatte, die unter Depressionen leiden, weiss, dass man letztlich nicht wirklich verstehen kann (es sei denn, man kennt solche Seelenzustände aus eigenem Erleben), was in einem solchen Menschen tatsächlich vorgeht. Deshalb ist man froh drum, dass es Drüberleben gibt, denn dieses exzellente Buch vermittelt auch dem Nicht-Direkt-Betroffenen eine gute Vorstellung von der Welt, in der unter Depressionen leidende Menschen leben.

Drüberleben sind zwei Zitate vorangestellt, das eine stammt von Dostojewskij, das andere von Lydia Daher: "Wir können uns nicht helfen, wir können uns nur retten" – und mehr, so der Eindruck bei der Lektüre dieses fulminanten Werkes, scheint in der Tat nicht drin.

"Depressionen sind doch kein Grund traurig zu sein", heisst der Untertitel, von dem die Autorin in einer Talkshow meinte, das sei natürlich ironisch gemeint.

Die Protagonistin des Buches, Ida Schaumann, leidet unter Depressionen, Angst, bleierner Müdigkeit, Sinnlosigkeitsgefühlen und Panikattacken und wäre eigentlich am liebsten gar nicht auf der Welt: "Jeder Versuch, einen Tag so zu verbringen, dass er mit dem eines Menschen vergleichbar wäre, dem die anderen nicht raten würden, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, scheitert schon bei dem kläglichen Unterfangen, vor dreizehn Uhr das Bett zu verlassen."

Ihre Ängste trinkt sie weg. "Nun, normalerweise betrinke ich mich, wenn es finanziell möglich ist, täglich und für gewöhnlich ab mittags." Sie geht in eine Klinik und schildert anschaulich, wie sie Personal und Mitpatienten erlebt. Gut findet sie dort nicht zuletzt, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sein muss. Besonders eindrücklich zeigt sie auf, wie komplex und differenziert ("Das Problem ist, dass wir allzu gern eine Lösung wünschen, die dem Ursache-Wirkung-Prinzip gefährlich gefällig ist ...") Depressive sich selber und, das fand ich überraschend, auch Therapeuten wahrnehmen. Warum-Fragen quälen sie: "Die meisten haben unschöne, manchmal sogar grausame Dinge erlebt, aber das haben tausend andere auch. Und die sind trotzdem nicht in der Psychiatrie." Und kommt dann zu einem (vorläufigen) Schluss: "Es ist so: Die Frage kann nicht lauten, warum ich etwas finde oder nicht finde. Die Frage müsste viel mehr lauten, warum die anderen etwas finden oder nicht, Ich finde es zum Beispiel in Ordnung traurig zu sein. Ich finde es auch in Ordnung, über Dinge nicht hinwegzukommen ...".

Depressive leben in Parallelwelten, und warum auch nicht, solange sie sich nicht selber ernstlich schaden? Ida Schaumann "hat nie aufgehört, das Mädchen zu sein, das sich das Leben ausdenkt, das sie gern hätte, während sie den Damen und Herren in der Psychiatrie einmal pro Woche das Leben präsentiert, das sie in Wahrheit führt: Ein Leben zwischen Exzess und Lethargie, zwischen Verzweiflung und Apathie."

Aufschlussreich fand ich auch die Ausführungen zum Thema Beziehungen: "Er liebt deine Macken, weil er sie für solche hält und weil er noch gar nicht weiss, was ihm noch blüht ...". Als ein ihr wohlgesinnter Mann ihre Nähe sucht, sagt sie: "Ich bin krank, und das schon ziemlich lange. Und ich wollte die ganze Zeit nicht alleine sein, aber zu zweit sein ist keine Option. Ich bin nicht ganz, ich bin irgendwie beschädigt, und ich will nicht mit dir befreundet sein." Ein paar Seiten weiter lässt sie eine junge Frau sagen: "Und dann hat sie gesagt, dass ich wahrscheinlich gar keine Beziehung will und deshalb die Männer von vorneherein so manipuliere, dass sie mich verlassen müssen, stell dir das mal vor. Die spinnt doch" und kommentiert dies so: "Ich lächle. Es ist das Lächeln eines Menschen, der eine Wahrheit erst vor kurzem erkannt, sie aber jetzt, jetzt in diesem Augenblick, endgültig begriffen hat."

Die Hoffnung, sich nach dem Aufenthalt in der Klinik grundlegend verändert zu haben, bestätigt sich nicht. Die anschliessenden Begegnungen mit Freunden und ihren Eltern in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen ist, sind ebenfalls alles andere als ermutigend, doch dann geschieht eben doch etwas ...

Kathrin Wessling hat einiges erlebt und überlebt, kann schreiben, und sie versteht, Erfahrungen zu vermitteln – mit Drüberleben ist ihr nicht nur ein in jeder Hinsicht überzeugendes Debüt, sondern ein notwendiges und hilfreiches Buch gelungen.

Kathrin Wessling
Drüberleben
Goldmann Verlag, München 2012

Mittwoch, 16. Januar 2013

Acceptance

Acceptance is the answer to all my problems today. When I am disturbed, it is because I find some person, place, thing, or situation – some fact of my life – unacceptable to me, and I can find no serenity until I accept that person, place, thing, or situation as being exactly it is supposed to be at this moment. Nothing, absolutely nothing happens in God's world by mistake. Until I could accept my alcoholism, I could not stay sober; unless I accept life completely on life's terms, I cannot be happy. I need to concentrate not so much on what needs to be changed in the world as on what needs to be changed in me and in my attitudes.
Shakespeare said, "All the world's a stage, all the men and women merely players." He forgot to mention that I was the chief critic. I was always able to see the flaw in every person, every situation. And I was always glad to point it out, because I knew you wanted perfection, just as I did. A.A. and acceptance have taught me that there is a bit of good in the worst of us and a bit of bad in the best of us; that we are all children of God and we each have a right to be here. When I complain about me or about you, I am complaining about God's handiwork. I am saying that I know better than God.

Doctor, Alcoholic, Addict
Alcoholics Anonymous World Services, Inc.
New York City 1976

Mittwoch, 9. Januar 2013

Grund und Widerstand

Nachdenken, und am meisten über das, woran am meisten gelegen. Weil sie nicht denken, gehen alle Dummköpfe zugrunde; sie sehen in den Dingen nie auch nur die Hälfte von dem, was da ist; und da sie sich so wenig anstrengen, dass sie nicht einmal ihren eigenen Schaden oder Vorteil begreifen, legen sie grossen Wert auf das, woran wenig, und geringen auf das, woran viel gelegen, stets verkehrt abwägend. Viele verlieren den Verstand nur deshalb nicht, weil sie keinen haben. Es gibt Sachen, die man mit der ganzen Anstrengung seines Geistes untersuchen und nachher in der Tiefe desselben aufbewahren soll. Der Kluge denkt über alles nach, wiewohl mit Unterschied: er vertieft sich da, wo er Grund und Widerstand findet, und denkt bisweilen, dass noch mehr da ist, als er denkt; dergestalt reicht sein Nachdenken ebenso weit als seine Besorgnis.

Baltasar Gracián
Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit

Mittwoch, 2. Januar 2013

Das durstige Kamel

Er konnte sich vorstellen, dass irgendwo, er wusste nicht wo, ein vollständiges Verstehen, eine vollkommene Erwiderung auf ihn wartete, die alle seine Gefühle und Sinne vom poetischsten bis zum körperlichsten berühren würde, eine Schönheit der Beziehung, die ihn so verwandeln würde, dass sie – denn diese Ergänzung war natürlich eine Frau – nicht nur in diesem Licht von vollkommener Schönheit sein würde, sondern dass auch er, was noch unglaublicher war, vollkommen schön und unbefangen sein würde ... In ihrer Gegenwart würde es keine Selbstvorwürfe, keine Fehltritte, keine Begrenzungen geben, nichts als Glück und die glücklichsten Aktivitäten ... Ein solcher Glaube ist für die Hälfte aller phantasiebegabten Menschen auf der Welt so natürlich wie das Wasser für junge Enten. Sie bezweifeln seine Wahrheit ebenso wenig wie ein durstiges Kamel bezweifelt, dass es gleich zu einer Quelle kommen wird.
Dieser Glaube ist ebenso närrisch, als hoffe ein Kamel, eines Tages aus einer Quelle zu trinken, die seinen Durst auf immer stillen werde.

H.G. Wells
Mr. Brittlings Weg zur Erkenntnis (1916)