Shi Heng Yi, der Autor dieses Werkes wurde 1983 in Kaiserslautern geboren. Seine Eltern stammen aus Laos und gehörten zu den boat people, die damals vor den anrückenden Vietcong flohen. "Meine Eltern haben massgeblich dazu beigetragen, dass ich den Shaolin-Weg beschritten habe, indem sie mich von klein auf geistig und in meiner Lebenshaltung geprägt und mir die konfuzianischen Tugenden nahegebracht haben."
Die konfuzianischen Tugenden sind so recht eigentlich universelle Tugenden wie Menschlichkeit/Nächstenliebe, Gerechtigkeit/Rechtschaffenheit, Riten/Sittlichkeit, Weisheit sowie Aufrichtigkeit/Verlässlichkeit. Und auch der Shaolin-Orden praktiziert ein universelles Prinzip, das sich mit mens sana in corpore sano charakterisieren lässt.
"Es kommt auf das Jetzt an", lese ich in der Einführung in den Shaolin Spirit, der mit einer respektvollen Verbeugung beginnt, die uns daran erinnern soll, "dass die Person, mit der wir gerade zu tun haben, in diesem Augenblick mit uns verbunden ist. Es kommt auf diesen Augenblick an, darauf, in der Gegenwart zu leben und sich darüber bewusst zu werden, was hier und jetzt ist – denn das Jetzt ist der Moment, in dem Leben passiert, und nur im Jetzt können Veränderungen stattfinden."
Shaolin ist eine Kampfkunst, die im Buddhismus gründet. das Ziel ist, im Gleichgewicht zu sein, geistig und körperlich. Dieses Buch erläutert zahlreiche Methoden wie zum Beispiel die Regulation der Atmung, die helfen sollen, dieses Ziel zu erreichen. Unterschieden und geübt werden können die Tiefe, die Dauer und der Rhythmus der Atmung.
"Die Shaolin-Tradition ist untrennbar mit dem Buddhismus verbunden, insbesondere mit dem Chan- oder Zen-Buddhismus." Der Buddhismus gründet in den vier edlen Wahrheiten, die der Autor in einfachen Worten und an praxisnahen Beispielen überzeugend darzustellen weiss. Dabei ist die rechte Einsicht wesentlich, wir müssen die Dinge erkennen, wie sie sind. "Nicht alles, was im Leben geschieht, hängt von uns ab. Doch immer liegt es in unserer eigenen Hand, wie wir mit der jeweiligen Situation umgehen – wir können uns immer wieder neu ausrichten."
Übrigens: Die Dinge zu erkennen, wie sie sind, meint unter anderem: Alles ist vergänglich; was kommt, geht auch wieder. Es gehört zu den Vorzügen dieses schön gestalteten Werkes, dass es Shi Heng Yi ausgezeichnet versteht, buddhistische Wahrheiten zu vermitteln.
Buddhisten halten das Ich für eine Illusion, eine Vorstellung, mit der Westler so ihre liebe Mühe haben. Ich denke, also bin; es sind meine Empfindungen, die mich ausmachen – so sehen es Westler. Nein, meint der Buddhist, "Gefühle und Gedanken kommen und gehen. Ich lasse sie einfach los." Mit anderen Worten: "Die Emotionen zu kontrollieren bedeutet nicht, keine Emotionen zu haben. Vielmehr sind wir frei geworden von dem willkürlichen Diktat der Gefühle und Erwartungen. sei es der eigenen oder derjenigen anderer Menschen."
Shi Heng Yi führt das Beispiel des Heisshungers an, der uns während einer Diät anfallen kann, dem wir nicht ausgeliefert sind, wenn wir wahrnehmen, beobachten und ihn als das erkennen können, was er ist – "eine Körperempfindung, nicht mehr und nicht weniger." Nochmals anders gesagt: Ich bin weder meine Gefühle noch meine Gedanken. Indem ich sie als das betrachte, was mir zustösst und mich wieder verlässt, verlieren sie an Bedeutung und belasten mich nicht.
Wer genau hinschaut, wird realisieren, dass er sich oft selbst im Weg steht. Es liegt meist nicht an den Einsichten, dass wir nicht so leben, wie wir gemäss unserer Vorstellung leben sollten, es liegt daran, dass wir zu wenig oder gar nicht praktizieren, was wir wissen, das wir praktizieren sollten. Fünf wesentliche Hindernisse führt Shi Heng Yi an. Eines will ich hier anführen: Mentale und/oder körperliche Trägheit. Und was ist dagegen zu tun? "Stärke deinen Körper und dein Geist wird folgen. Lerne Ausdauer, Wille und Vertrauen in dich über den Körper."
The readiness is all, sagt Horatio in Hamlet. Shi Heng Yi drückt es so aus: "Deine Geisteshaltung – wie die eines jeden Menschen – bestimmt über Erfolge und Misserfolge." Mit Erfolg meint er übrigens nicht, was wohl die meisten Westler, die nach dem Äusseren streben und wettbewerbsorientiert denken, darunter verstehen, "Ich stehe nicht mehr im Wettbewerb mit anderen, sondern nur noch mit mir selbst." Erfolg bedeutet, Meister seiner selbst zu sein.
Fazit: Ein schön gestaltetes, überaus anregendes, hilreiches und lebenspraktisches Buch, illustriert mit zahlreichen Übungsanleitungen.
Shi Heng Yi
Shaolin Spirit
Meistere dein Leben
O.W. Barth, München 2023