So recht eigentlich hätte mich ja bereits der Titel, Der Stoff, aus dem die Gefühle sind, skeptisch machen sollen. Tat es aber nicht. Auch der Untertitel, der noch mehr Uneinlösbares versprach – Über den Ursprung der Emotionen – tat es nicht. Leitend war stattdessen die Hoffnung, über die der Autor nüchtern und treffend notiert: „… die Hoffnung ist ein Gut, das sorgfältig reguliert und so sparsam dosiert werden sollte, dass es vernünftiges Handeln motivieren kann“, was bei mir eindeutig nicht der Fall gewesen ist, denn ich bin auf die Werbeversprechen des Verlages reingefallen, die da suggerieren, es gebe tatsächlich Antworten auf Fragen wie „Warum fühlen wir? Wie entstanden unsere Emotionen? Welche Geheimnisse birgt das ganze Spektrum unserer Gefühlswelten?“
Karl Deisseroth, Professor für Biotechnik und Psychiatrie, ist vor allem bekannt geworden durch seine Entwicklung der Optogenetik, bei welcher Gene von Mikroben, Bakterien und einzelligen Algen in ausgewählte Hirnzellen von Wirbeltieren (etwa Mäusen oder Fischen) verpflanzt werden.
„Das mag befremdlich klingen, hat aber seinen Sinn, denn in ihrem neuen Umfeld bewirken die geborgten Gene (sogenannte Opsine) die Produktion von bemerkenswerten Proteinen, die Licht in elektrischen Strom verwandeln (…) Mithilfe von Laserlicht, das wir durch dünne Faserkabel oder Hologramme ins Gehirn einbrachten, konnten wir in diesen modifizierten Zellen die elektrischen Signale verändern und das Verhalten der Tiere damit auf erstaunliche spezifische Weise manipulieren.“ Da gehen bei mir zahlreiche Warnlampen an, es klingt in meinen Ohren nach Doktor Frankenstein.
„Projections – A Story of Human Emotions“ heisst der englische Originaltitel. Das ist etwas ganz anderes als was der deutsche Titel (fälschlicherweise) behauptet. Was der Autor in diesem Werk versucht, ist, drei unterschiedliche Perspektiven, „die Erfahrungen eines Psychiaters, die Ursprünge der Emotionen und die aktuelle Hirnforschung“ zu einem Bild zusammenzufügen. Er erzählt von seinen Begegnungen mit Patienten, Frauen wie Männern, auf der psychiatrischen Notaufnahme und macht dabei deutlich, wie stark da mit Annahmen, Vermutungen und Interpretationen operiert wird.
Eindrücklich ist dabei, wie er auch seine eigenen Empfindungen schildert. „Als ich mit ihm sprach, spürte ich, wie sich der Raum mit seiner aufgestauten Energie auflud. Während Alexander in seiner Verärgerung und Erregung vor mir sass, stiegen in meiner Vorstellung unwillkürlich Szenen aus seinem Leben auf, die sich in meinem Kopf festsetzten wie die Bilder aus dem Flugzeug in seinem – unausgesprochen, aber sonderbar klar und detailliert. Ich liess diese Bilder wachsen und sah ihn, wie er nach der Rückkehr von seiner Odyssee in seinem Wohnzimmer sass und die Augen öffnete.“
Karl Deisseroth „studierte in Harvard, u.a. Creative Writing“, informiert der Klappentext. Leider, habe ich immer mal wieder gedacht, denn sein bildungsgesättigter Stil, ist gar nicht mein Ding. Ein Beispiel: Als er einmal zum Opfer eines Raubüberfalls wird, notiert er: „Ich händigte meinen Rucksack aus und wartete, während der grosse Schatten ihn ausleerte. Dabei hielt ich den Blick fest auf die Klinge in der Hand des anderen gerichtet. Meine süsse Misericordia, das feine Stilett, mit dem man nach mittelalterlichen Schlachten wie den von Orléans oder Azincourt den Sterbenden den Gnadenstoss gab. Im unwirklichen Licht des Bahnsteigs schien die Klinge zu pulsieren und jede Zelle meines Körpers fiel in ihren Rhythmus ein.“ Meine eigenen Assoziationen, stelle ich mir vor, wären in einer solchen Situation wohl etwas anders ausgefallen.
Trotzdem: Am Aufschlussreichsten fand ich des Professors Selbst-Offenbarungen, in der Regel als Reaktion auf Verhaltensweisen der Patienten. „Er war ein menschliches Säugetier aus einem zerstörten Bau, im Alter von drei Jahren hatte er sein Nest verloren und war dann als Borderliner zur Welt gekommen – fixiert in der Zeit, mit kindischen Abwehrreaktionen, doch mit den Waffen, um meine Grenzen zu überwinden, mir unter die Haut zu gehen und meine tiefsten, ältesten Reaktionen anzurühren.“
Ist es ihm gelungen, die drei eingangs erwähnten Perspektiven zusammenzuführen? Mich haben seine Ausführungen oft ratlos gelassen, obwohl ich seine Herangehensweise speziell und anregend gefunden habe. Zu ungewohnt war mir sein Denken. Und seine Sprache. Doch was wir im Augenblick nicht verstehen, kann sich uns ja auch zu einem späteren Zeitpunkt offenbaren. „Tiefere Einsichten dürfen mehr Zeit beanspruchen und sehr viel später erfolgen, nachdem alle Informationen gesammelt sind und über Wochen und Monate reifen …“. Es ist dies eines der Phänomene, das mich immer wieder staunen macht: Dass viele Erkenntnisse, die wir mit uns herumtragen, Jahre brauchen können, um sich in Handlungen zu manifestieren – oder auch nicht.
PS: Unter dem Titel „Weiterführende Literatur“ finden sich Links auf frei verfügbare Hintergrundartikel zu den jeweiligen Themen. Das ist höchst hilfreich und für mich eine Premiere.
Karl Deisseroth
Der Stoff, aus dem die Gefühle sind
Über den Ursprung der Emotionen
Blessing, München 2021