Ein Sonntagnachmittag in Santa Cruz do Sul. Ich bin bei R und T zum Brunch eingeladen. R, vom Krebs geschwächt, hat sich zurückgezogen. T und ich sitzen im Garten und tun, was wir immer mal wieder tun: Wir sprechen über Gott und die Welt, das Leben und den Tod. Eigentlich seien wir doch Tiere, bemerkt sie und meint das nicht etwa abschätzend. Sie stellt es einfach fest. Oder Maschinen, ergänze ich, denn praktisch alles geschieht automatisch. Atmen, Reden, Sehen, Sprechen, Denken.
Ihr gefalle es, sechzig zu sein, sagt sie, sie müsse jetzt nicht mehr so viel. Und auch den Respekt vor grossen Namen habe sie verloren. Mir geht es auch so – diejenigen, die sich und der Welt dauernd beweisen müssen, wie toll sie sind, finde ich eigentlich nur noch lächerlich.
Wie eingeschüchtert und unsicher ich mich als Student fühlte, wie fremd ich mir an der Universität vorkam. Noch viele Jahre, nachdem ich solche höhere Bildungsstätten erfolgreich absolviert hatte (ohne das Gefühl zu haben, ich wüsste nun wirklich etwas), machten mir akademische Titel Eindruck, jagten mir Professoren Respekt ein. Heute ist das anders, sehr anders, kann ich sie überhaupt nicht mehr ernst nehmen, halte ich die meisten für eingebildete, schwache Figuren, die sich an ihrem meist willkürlichen Detailwissen festklammern, unfähig, sich mit ihrer Vergänglichkeit (und nur diese sollte uns leiten!) auseinanderzusetzen.
Du bist nichts, gar nichts. So wurde T in Japan der Zen Buddhismus beigebracht. Sie erlebe sich als Teil des Universums, sagt sie. Und das werde sie auch immer sein. In welcher Zusammensetzung von Atomen auch immer.
Solche Gedanken sind mir nicht fremd. Dass alles miteinander verbunden ist, predige ich schon lange. Doch an diesem sonnig heissen Nachmittag erreichen sie mich anders, empfinde ich sie als eigenartig neu, unvertraut und gleichzeitig sehr nahe. Ich fühle mich an Empedokles erinnert, der einen universellen Kreislauf der Dinge postulierte, in dem es weder Schöpfung noch Vernichtung gibt. Und an den römischen Dichter und Philosophen Lukrez, der der Auffassung war, dass das Universum keinen Schöpfer oder Designer hat, sondern als immerwährende Veränderung existiert. Hilfreiche Gedanken, die näher an meiner Welterfahrung sind als das gewohnte Ursache-Wirkung-Denken.
Beim Abendessen ereifert sich eine der beiden Töchter von R und T über gesundes Essen, das auch gegen Krebs helfe, worauf T trocken meint: Bei all der gesunden Nahrung, die die Affen so zu sich nehmen, müssten die eigentlich ewig leben.
Hans Durrer
Gregors Pläne
Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern
neobooks, München 2021