Auf der Rückseite des Buchumschlags wird neben Stephen King und Andrew Solomon auch Chris Kraus mit dem unsäglich blöden Satz "Leslie Jamisons Die Klarheit ist die ultimative Studie der Romantik des Rausches und der Möglichkeiten der Genesung" zitiert, der dann von dem noch blöderen "Es gibt vielleicht niemanden, der besser über seelisches Leid und Trost schreibt" (aus dem New Yorker) getoppt wird. Na ja, die Amis haben es halt mit Superlativen (ultimative Studie; niemand, der besser), furchtbar.
Wenn schon Superlative, dann bitte so wie ich sie benutze. Die Klarheit gehört zu den eindrücklichsten Büchern über Sucht, das ich je gelesen habe und ich habe viele, ja, sehr sehr viele nicht nur gelesen, sondern studiert. Dass ich zu dieser Einschätzung komme, hat unter anderem damit zu tun, das ich mich mit vielem, das Leslie Jamison beschreibt, identifizieren kann. Sätze wie diesen etwa: "Ich brauchte alles, und zwar sofort. Mehr. Noch mal. Für immer." Oder: "Johnsons Storys beharrten darauf, dass alles, was uns umgab, auch wichtig war: das Verträumte, Nelkenverrauchte sowie die durchdringende Kälte dieser Stadt. Es war da, schrieb er. Wirklich." Oder: "Mein Problem war nicht schwierig, aber trotzdem unlösbar: Ich wollte nicht fühlen, was ich fühlte." Zudem: Als ich lese, dass die Tante der Autorin Kay Redfield Jamison ist, deren Meine
ruhelose Seele mich Entscheidendes über seelische Schwierigkeiten gelehrt hat, gehe ich die Lektüre von Die Klarheit noch positiver an als ich das eh schon tue.
Leslie Jamison, geboren 1983 und aufgewachsen in Los Angeles, hat am Iowa Writer's Workshop ihren Master in Kreativem Schreiben gemacht und lehrt an der Columbia University. Treffend notiert der Klappentext: "Sie trank, weil sie ihre Mängel verbergen, ihre Bedürfnisse abschütteln und um jeden Preis besonders sein wollte. Und sie würde erst genesen, wenn sie nicht mehr auf ihrer Originalität beharrte."
Aufrichtig und schonungslos beschreibt sie ihre Alkoholsucht. "Ich war derart egozentrisch, dass man fast ein eigenes Wort hätte erfinden müssen, um mich zu berschreiben. Hätte es dieses Wort gegeben, hätte ich es natürlich gemocht." Und sie setzt sich mit dem Mythos der trunkenen Genialität auseinander. "Meine Fähigkeit, alkoholisierte Dsyfunktionalität reizvoll zu finden – und ihren Zusammenhang mit dem Genialischen zum Fetisch zu erheben – , war eine Folge des Privilegs, noch nie richtig gelitten zu haben."
Schliesslich kapituliert sie, geht zu den Meetings der Anonymen Alkoholiker. "Die Nüchternheit war zerbrechlich und unangenehm, aber sie war das Einzige, was ich über längere Zeit hinweg noch nicht ausprobiert hatte. Also probierte ich es aus." Von Bill Wilson, der zusammen mit Dr. Bob die AA ins Leben gerufen hatte, berichtet sie unter anderem, dass er "herausfinden wollte, inwiefern sich LSD im Rahmen des Genesungsprozesses sinnvoll einsetzen liesse", was die anderen AA gar nicht toll fanden. Für sie selber machte dies Wilson, der von vielen auf ein Podest gestellt wurde (und wird), menschlicher.
Nüchternheit findet sie enttäuschend, weder kittet sie ihre Beziehung, noch führt sie dazu, dass sie lebendiger schreibt. Auch fühlt sie sich verbraucht und verschüchtert. Sie geht nicht mehr zu AA-Meetings, wird rückfällig – was keinesfalls als zwangsläufige Folge verstanden werden soll, denn dieses Buch macht vor allem klar, dass Sucht mit unseren landläufigen Erklärungsversuchen nicht zu fassen ist – und wieder nüchtern. Dieses zweite Mal geht sie mit einer anderen Einstellung zu den AA-Meetings. "Ich wusste nicht, was ich glaubte, und betete trotzdem."
Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung verspricht der Untertitel und macht damit klar, dass dies, obwohl ein persönliches Buch, keine Nabelschau, sondern der gelungene Versuch ist, die eigene Geschichte in grösseren Zusammenhängen zu sehen, einerseits im Kontext der eigenen Familie, andererseits im Rahmen der Schriftsteller, die abhängig vom Alkohol waren. Dabei setzt sie sich auch mit einigen der einschlägigen Alk-Werke auseinander – von Charles Jacksons Verlorenem Wochenende über Malcolm Lowrys Unter dem Vulkan zu David Foster Wallaces Unendlichem Spass. Auch von anderen Geschichten der Genesung berichtet sie, von ihrer Sponsorin, der Anwältin Susan, schreibt sie. "Die Nüchternheit hatte ihr Klarheit darüber verschafft, dass das Leben, wie sie es sich im Laufe von Jahrzehnten aufgebaut hatte, nicht das war, was sie weiter leben wollte. Diese Erkenntnis war sicher ein Geschenk, wenn auch eines, das sich nicht jeder wünscht."
Und nicht zuletzt: Die Klarheit klärt auch über die nordamerikanische Drogenpolitik auf. "Alkoholsucht wurde zur Krankheit, Drogensucht zum Verbrechen." Für sie selber, ein nettes weisses Mädchen aus der oberen Mittelschicht, bedeutete das: "Meine Haut hatte die richtige Farbe, um mir den Rausch zu erlauben." Mit anderen Worten: Der "War on Drugs" ist in Wahrheit ein Krieg gegen die Schwarzen. "Eine Studie aus dem Jahr 1993 ergab, dass nur 19 Prozent aller Drogendealer Afroamerikaner waren, ihr Anteil bei Verhaftungen aber 64 Prozent betrugen."
Gut geschrieben, vielfältig aufklärend, selbstkritisch und ausgesprochen hilfreich.
Das für mich eindrücklichste Sucht-Buch seit Langem.
Leslie Jamison
Die Klarheit
Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung
Hanser Berlin 2018