Von Kindsbeinen an werden wir dazu angeleitet, uns gegen andere durchzusetzen, uns zu beweisen, werden daran gemessen, ob wir gute Noten nach Hause bringen, uns im Sport ausgezeichnet haben. Wir werden dazu konditioniert, unser Selbstwertgefühl vom Urteil anderer abhängig zu machen. Was wir hingegen nicht lernen, ist, mit uns selber pfleglich umzugehen. Über Letzteres erhoffte ich mir erhellende Auskünfte von diesem schmalen Band.
Woher kommt das, dass der Mensch nicht dazu angeleitet wird, mit sich selber Freundschaft zu pflegen? Wilhelm Schmid argumentiert, dass sich mittlerweile eine regelrechte Hinwendung zum Selbst ausgebreitet habe, allerdings mit der Tendenz zu einem masslosen Selbstkult, den er sich mit dem üblichen Gang der Geschichte erklärt. "Auf ein Extrem antwortet ein anderes. Auf die Jahrhunderte währende Geringschätzung des Selbst musste also seine Überschätzung folgen."
Wohin man auch blickt, Narzissten zuhauf. Was vermutlich auch daran liegt, dass sensiblere, mit sich selbst zufriedene Menschen für die Medien uninteressant sind. Und auch nicht im Interesse der Gesellschaft sind, denn solche Menschen sind ihr eigener Massstab, sie brauchen es nicht, regiert zu werden.
Der Autor Wilhelm Schmid hat sich der Lebenskunst verschrieben. Und zwar philosophisch. Und das meint: Er ist vor allem fragend und differenzierend unterwegs. So unterscheidet er etwa die Selbstliebe von der Selbstfreundschaft, die den Vorteil hat, nüchterner zu sein und nicht, wie erstere, zur Übertreibung zu neigen. Das sehe ich auch so, das Folgende hingegen nicht. "Bewunderung durch Andere ist dem Selbstfreund willkommen, sofern es Anlass dazu gibt; ein wenig davon lässt er sich auch schon selbst zuteilwerden." Das klingt etwas arg nach Rechtfertigung der eigenen Eitelkeit. Hans Pleschinski trifft es in Wiesenstein genauer: "Wer Ruhm geniesst, weiss, dass er einen umnebeln kann, aber er merkt es nicht mehr."
Selbstfreundschaft wirkte auf mich streckenweise sehr akademisch, speziell die sieben Punkte der Selbstdefinition. Genauer: Fragen wie diese: "Welche Beziehungen der Liebe, der Freundschaft und Verwandtschaft sind mir so wichtig, dass ich sie als Teil meines Selbst betrachten will?" "Welche sind feste Bestandteile meiner selbst, ohne die ich nicht geworden wäre, was ich bin?" Viel mehr als spekulieren geht da kaum.
Und dann gibt es da noch die Fragen, bei denen ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr herauskam. "Was ist mein Traum, dem ich im Leben folgen will, meine Sehnsucht, auch mein Glaube, mein Weg, den ich gehen will, mit einem bestimmten Ziel oder auch ohne?" Nun ja, ich habe da ganz viele und sie wechseln ständig ...
"Wie das Leben leichter wird", so der Untertitel, machen Wilhelm Schmids Ausführungen nicht wirklich klar, was wesentlich daran liegt, dass er wie das Akademiker eben so tun, alles einfangen und berücksichtigen und ja nichts auslassen will – und damit im Ungefähren und Unverbindlichen bleibt. Und wenn er sich dann gelegentlich trotzdem zu einer eindeutigen Aussage durchringt, dann wirkt es manchmal zu kurz gedacht. "Wer den Gedanken an den Tod gedacht hat, kann mit neuer Unbekümmertheit durchs Leben gehen." Ich denke, der Gedanke ist da zu wenig.
Andererseits – und deswegen lohnt die Lektüre – liefert Selbstfreundschaft viel intelligente Unterhaltung und so ganz wunderbar clevere und hilfreiche Erhellungen wie etwa diese: "Alle Sorge zielt auf Selbstverwirklichung, aber im Sinne des Wortes: Aus den Möglichkeiten des Selbst eine Wirklichkeit zu machen." Oder: "Jede Verwirklichung ist ausserdem auf die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung angewiesen, Autonomie im ursprünglichen Wortsinn: Das Selbst (autos) gibt sich das Gesetz (nomos)." Oder: "Das Leben wird leichter, wenn ich mir nicht vorstelle, dass es immer leicht sein muss."
Wilhelm Schmid
Selbstfreundschaft
Wie das Leben leichter wird
Insel Verlag, Berlin 2018