Auf dem Umschlag von Alkohol, bei Ink Press in Zürich erschienen, sind Kalin Terzijski und Dejana Dragoeva als Autoren aufgeführt, doch nur von Kalin Terzijski erfährt man, wer er ist: Ein studierter Mediziner, der einige Jahre als Psychiater gearbeitet hat. Im Prolog beschreibt Dejana Dragoeva ihre Mitarbeit bei diesem Buch so: "Meine 'unsichtbare' Rolle bestand darin, die Linien vorzuzeichnen, auf welchen alle Seiten geschrieben wurden. Die Seiten so zusammenzufügen, dass aus einem verstreuten Puzzle unzusammenhängender Gedanken eine Geschichte sowohl mit einer Story als auch mit einem Plot entstand."
Kajo, der Protagonist der Geschichte, wollte schon als Kind Alkoholiker werden, denn er empfindet das Leben als sinnlos. "So gelangte ich zur diffusen, aber immer stärker werdenden Überzeugung, dass ich Alkoholiker werden musste." Er schildert das als einen bewussten Entscheid, zimmert sich rationale Gründe zurecht und glaubt sie offenbar. "Der Rausch ist der einzige Zustand im Leben, der sich lohnt."
Ich kann mit solchen wenig inspirierenden Selbstrechtfertigungen, die sich gelegentlich als ziemlich abstruses Loblied auf Alkoholiker lesen ("Die Freiheit des Alkoholikers liegt darin, dass er die Welt nicht ändern will.") nichts anfangen, sie ermüden mich nur; andere Aspekte dieses Buches sprachen mich weit mehr an. Die Schilderungen aus der Psychiatrie etwa, als er "der seriöse, traurige, nette, kühle, grausame Arzt gewesen war, der durch die Alleen zwischen den Baracken der Klinik umherwanderte und versuchte, seine eigene Seele zu retten, indem er seine Hand ängstlich den Seelen der anderen entgegenstreckte. Der von der Welt verlassenen Verrückten."
Als er dann die Medizin, die Familie (von seiner Frau und seinem Kind erfahren wir nicht viel – das ist nicht weiter verwunderlich, Alkoholiker sind fast ausschliesslich mit sich selber beschäftigt) und das sogenannt normale Leben aufgibt, "war ich in den Kreisen der normalen Menschen nicht mehr erwünscht."
Doch was sind normale Menschen? Was ist ein normales Leben?
"Normal nenne ich aus Gewohnheit jene, die vor allen Angst haben, die anders sind als sie. Es graut ihnen vor dem Scheitern, und deshalb hüllen sie sich in Überheblichkeit ein. In diesen Kreisen – der normalen Menschen – sind Verräter gar nicht willkommen. Verräter nennen die Normalen jene, welche der Idee der Unterwerfung unter den gigantischen Mechanismus – unter die Fleischmühle, in welche lebende, blutige Körper eingehen und unmenschliche Werbegesichter und Autobiografien aus Pappe herauskommen – fremdgegangen sind."
Im Laufe der Geschichte tritt immer wieder die Wahrsagerin Marta auf, deren Rolle sich mir nicht wirklich erschlossen hat. Im Klappentext erfahre ich, sie gebe Kajo via diverser Skype-Gespräche "durch einen manipulierten Zwist mit seinem besten Freund Martin Karbovski seine Würde zurück und den unbändigen Willen, ohne Alkohol zu leben und zu schreiben." Das muss ich überlesen haben.
Wie auch immer, jedenfalls hört Kajo auf zu trinken. Und jetzt beginnen die für mich stärksten Szenen dieses Buches. "Eines Abends sass ich am leeren Tisch. Ich starrte die weisse Wand an und trank nicht. Ich trank einfach nicht. Es war grossartig. Als wäre ich in einer gotischen Kathedrale. Als wäre ich selbst eine gotische Kathedrale. Streng, vernünftig und trocken." Er wird zum Kämpfer. "Ich durchlebte die ungeheuren Schmerzen und die Hölle der Abstinenz. Ich zermalmte sie mit meinem Willen. Und war stolz auf mich selbst. Ich war ein Sieger."
PS: Von den ersten Seiten an sei ihr klar gewesen, dass Alkohol kein Bekenntnisbuch sei, sondern ein Poem, über die eigene Generation, schreibt die 1981 in Sofia geborene und mittlerweile in Zürich lebende Übersetzerin Viktoria Dimitrova Popova im Nachwort. "Das war er, der Roman aus Bulgarien, auf den ich seit der Wende gewartet hatte, der auch mich betraf und erschütterte ...".
Kalin Terzijski
Dejana Dragoeva
Alkohol
INK PRESS, Zürich 2015