Mittwoch, 29. Oktober 2014

Das verlorene Wochenende

"Grossartig und erschreckend ... der beste Roman über Alkoholismus, den ich je gelesen habe", soll Kingsley Amis über Charles Jacksons Das verlorene Wochenende gesagt haben. Mein bester ist er nicht – meiner ist James Freys A Million Little Pieces – doch ein guter, ja ein wirklich guter, das ist Das verlorene Wochenende schon.

Manhattan 1936, die Zeit der Weltwirtschaftskrise (The Great Depression). Der Schriftsteller Don Birman trinkt. Sein Bruder Wick sorgt sich um ihn, versucht erfolglos, ihn zu einem langen Wochenende auf dem Land zu überreden, doch Don zieht lieber durch die Bars, wo er auch einmal auf einen Mann trifft, der an derselben Uni studiert hat und die selben Leute kennt   er ist nüchtern, als er bei dieser Unterhaltung erfährt, wie er ein unangenehmes Vorkommnis in seiner Vergangenheit verdrängt hat ... und geht dann schnurstracks nach Hause, um sich zu betrinken. Beeindruckend, wie gekonnt Charles Jackson diese Szene schildert, Dons Anspannung ist fast mit Händen zu greifen.

Überaus überzeugend ist auch die Schilderung des Morgens danach. Der Mix von Selbstvorwürfen, Unsicherheit, Unruhe und Angst, die einen Hangover charakterisieren, fasst Jackson in Sätze, die eindrücklich klarmachen, was ein Alkoholiker für einen Preis für sein Saufen zu bezahlen hat. "An der 56sten blieb er am Fussgängerüberweg stehen. Er war so nervös, dass er seinen Sinnen nicht traute. Ängstlich blickte er wieder und wieder zur Ampel, bevor er den sicheren Bordstein verliess, und selbst dann war ihm noch bang ... Wie oft war er an Vormittagen wie diesem ... an denen er wirklich nicht wusste, ob er beim nächsten Schritt ohnmächtig werden würde ... Vormittagen grotesker, unerklärlicher Panik davor, dass jemand in einem Moment der Unaufmerksamkeit seinen Blick auffangen und ihm direkt in die Augen schauen würde ...".

Er landet in der Klinik, auf der Alkoholstation, hat keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist. Er hat eine Schädelfraktur und wird Zeuge, wie Mitpatienten auf die einfachsten Fragen der Ärzte keine Antwort wissen. Der Schock darüber hält nicht lange an, er säuft weiter ...

Charles Jackson soll es wichtig gewesen sein, grosse Literatur und nicht etwa nur ein gutes Buch übers Saufen geschrieben zu haben. Ich weiss nicht wirklich, ob ein Buch grosse Literatur ist oder nicht  , klar, bei einigen spüre ich das, etwa bei Goethes Wahlverwandtschaften oder bei einigen Erzählungen von Alice Munro  , doch mich beschäftigt das eigentlich auch nicht sehr. Ein gut geschriebenes Buch ist Das verlorene Wochenende allemal. Und eines, das unter anderem klar macht, was einen Alkoholiker von einem Normalo unterscheidet: "... empfand er tiefe und hochmütige Verachtung für diejenigen, die Alkohol am Morgen danach verschmähten, denen sich, von der Ausschweifung der Nacht noch durchgeschüttelt, schon beim blossen Gedanken daran der Magen umdrehte."

Der 1903 in Summit, New Jersey, geborene Charles Jackson war selber Alkoholiker. Er weiss also, wovon er schreibt. Und das merkt man, auch wenn sich gelegentlich Denkfehler einschleichen. "Er trank nicht, weil er durstig war, und auch nicht, weil es ihm schmeckte (Whisky war im Grunde genommen scheusslich, er stürzte ihn immer möglichst schnell herunter): Er trank wegen der Wirkung, die es auf ihn hatte." Die Klammer-Bemerkung suggeriert, dass er den Whisky schnell herunter stürzt, weil er den Geschmack nicht mag. Eine typische Alkoholiker-Rationalisierung, denn der Geschmack ist einem Alki sowieso egal. Es ist eher so: Er stürzt den Whisky schnell herunter, weil so die gewünschte Wirkung schneller eintritt!

Aus dem Nachwort von Rainer Moritz erfahre ich, dass sich Jackson eine Zeitlang den Anonymen Alkoholikern angeschlossen hatte "und war auf deren Zusammenkünften ein gefragter Redner, was nicht zuletzt am Erfolg seines Trinkerromans Das verlorene Wochenende lag, der auch auf eigenen leidvollen Erfahrungen beruhte." Man darf aus diesen Worten schliessen, dass Rainer Moritz noch nie an einer solchen Zusammenkunft war, denn da reden ausschliesslich Leute, die selber leidvolle Erfahrungen gemacht haben. Stars sind da verpönt.

Moritz weist auch darauf hin, dass Jackson sich gewehrt habe, primär als Suchtexperte wahrgenommen zu werden: "Ich bin zuallererst Schriftsteller und erst dann Nichttrinker." Nun ja, Nichttrinker war er offenbar nicht gerade häufig, denn Rückfälle in die Sucht seien an der Tagesordnung gewesen, so Moritz. Ich selber sehe Jackson als Trinker, der schreibt, der sehr gut schreibt, so wie es ein Nichttrinker gar nicht könnte, weil ihm ganz spezifische Erfahrungen fehlen: "Er hätte nicht geschickter und vorsichtiger, nicht mehr Herr seiner kleinsten Bewegung sein können – dazu war nur der Betrunkene fähig, der gerade betrunken genug ist, um genau zu wissen, was er tut, mit einer Klarheit, die dem Nüchternen versagt ist. Oh, und es zugleich auch nicht zu wissen. Das war das Demütigende und Gefährliche daran. Betrunken genug, um zu wissen, was er tat, aber nicht, was die anderen taten."

Charles Jackson
Das verlorene Wochenende
Dörlemann Verlag, Zürich 2014

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Zukunftsgeschwätz

Die Menschen, die immer von der besseren Zukunft schwatzen, sind die grössten Verderber der Welt. Der Glaube an eine bessere Zukunft, er vor allem, muss den Menschen genommen werden. Denn schliesslich haben wir es ihm zu verdanken, dass wir uns ewig im Kreise drehen. Die Namen wechseln, die Institutionen wechseln, die Sache, nämlich der Mensch, bleibt immer derselbe. Es kommt aber gerade darauf an, dass der Mensch ein anderer wird. Die Fortschritte der Wissenschaft, der Institutionen sind daneben eine gleichgültige Spielerei.

Hans Albrecht Moser: Vineta

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Eine Rückkehr ins Leben

Der New Yorker Literaturagent Bill Clegg war nach einer zwei Monate dauernden Drogenorgie in der psychiatrischen Abteilung von Lenox Hill, einer Alkohol- und Drogenentzugsklinik, gelandet. Vier Wochen später kehrt er nach New York zurück. "Die kleine Literaturagentur, die ich vier Jahre als Mitinhaber geleitet habe, gibt es nicht mehr, alle meine Klienten haben sich neue Agenten gesucht, unsere Angestellten haben neue Jobs oder sind weg aus New York, und weg ist auch das Geld, das ich mal hatte; geblieben sind wachsende Schulden bei Anwälten, Krankenhäusern und Entzugskliniken ...".

Es gibt Süchtige, bei denen ist der Drang/das Verlangen nach der Droge nach dem Aufhören plötzlich weg, bei ganz vielen ist das jedoch nicht der Fall – Bill Clegg gehört zu den letzteren.

Mit seinem Paten ("Sponsor" im Englischen) Jack, den er im Krankenhaus kennengelernt hat, geht er zu Versammlungen, in denen Suchtkranke Hilfe suchen. Er fühlt sich sehr fragil, hat Angst davor, was andere von ihm denken.

Eines Tages sieht er auf der Strasse Jane, die Frau eines früheren Klienten und Bestsellerautorin, mit einem Kinderwagen auf sich zukommen. Er hat seit vielen Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen und fürchtet nun, sie würde ihn wie Luft behandeln und einfach an ihm vorbeigehen. So wie man eben Ausgestossene behandelt. Was dann wirklich geschieht, ist dies: "Jane bleibt stehen, tritt auf die Feststellbremse des Kinderwagens und kommt zu mir. Wortlos fast sie mich bei den Armen, zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Schnell, spontan, schon passiert. Sie streicht mir über die Schultern, sieht mich liebevoll an und geht wieder."

Der Titel Neunzig Tage verdankt sich dem von Selbsthilfegruppen propagierten "Neunzig Treffen in neunzig Tagen", das Neuzugängern wärmstens empfohlen wird. Bill Clegg schafft die neunzig Tage nicht, er wird rückfällig. Beim nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe ist er nicht bereit, von seinem Rückfall zu erzählen und geht. Und hat einen weiteren Rückfall.

"Ich kenne die Folgen, weiss, dass schon im nächsten Augenblick alles in paranoide Verzweiflung umschlägt, und finde es trotzdem erstrebenswert, Crack zu rauchen. Es ist Irrsinn, denke ich nicht zum ersten Mal." Was der Veränderung beziehungsweise Neuorientierung im Wege steht, ist das Ego. Jeder Süchtige hält sich für einen absoluten Spezialfall. Als Bill seinem Paten Jack wiedereinmal sein Leid klagt, meint dieser trocken: "Das hört sich alles nach ICH gegen DIE an statt nach WIR, und runter kommt man nur, wenn WIR daraus wird."

Er braucht Geld, ein Freund hilft ihm aus. Er verhökert das Silber seiner Mutter, die ihn eindringlich ermahnt: "Das reicht jetzt, du musst damit aufhören. Endgültig. Hast du verstanden? Es reicht." Noch nie hat er sie in einem solchen Ton reden hören, und als Leser denkt man, jetzt schnallt er es. Doch er hat einen weiteren Rückfall, er hält ihn geheim, erzählt niemandem davon.

Eine der Süchtigen, mit der sich Bill an einem Treffen der Selbsthilfegruppe befreundet, ist Polly, die wie er selber, immer wieder rückfällig wird. Als sie und ihre Zwillingsschwester Heather vier Tage und Nächte durchschnupfen, wird Heather bewusstlos. "Sie muss eine Überdosis genommen haben, begreift Polly und bekämpft die aufsteigende Panik mit einer Nase Kokain. Als das nicht hilft, nimmt sie noch eine. Fast ein ganzer Eightball liegt auf dem Tisch, und sie weiss, wenn sie einen Krankenwagen ruft und Leute kommen, wird sie Heather ins Krankenhaus begleiten müssen. Und nicht mehr schnupfen können. Sie zieht eine Linie nach der anderen, um sich Mut für den Notruf zu machen ...".

Bill will Polly helfen und so sagt er ihr, was seine Freundin Lili einst zu ihm sagte, als sie ihn im Drogensumpf vorgefunden hatte: "Wenn du sterben willst, stirb. Wenn du leben willst, ruf mich an. Aber bis dahin lass mich aus dem Spiel."

Der Schlüssel zu Bills Genesung war Ehrlichkeit, unbedingte Ehrlichkeit sich selber und anderen gegenüber. Neunzig Tage berichtet eindrücklich davon, wie er sich dagegen gewehrt, schliesslich kapituliert und bei anderen Süchtigen Hilfe gefunden hat. "Für mich waren ihre Stimmen lauter als die Lügenstimme, lauter als meine eigene. Sie haben mich Tag für Tag zur Aufrichtigkeit und zum Nützlichsein hingeführt, und sie haben mir das Leben gerettet."

Bill Clegg
Neunzig Tage
Eine Rückkehr ins Leben
S. Fischer, Frankfurt am Main 2014

Mittwoch, 8. Oktober 2014

Depressionen & Borderline

Viktor Staudts Leben wird von Angstattacken und Depressionen beherrscht, schliesslich wirft er sich vor einen Zug und verliert seine Beine. Sein Bettnachbar im Krankenhaus, ein Mann un die fünfzig mit Namen Didier, leidet an einer Form der Schizophrenie und ist deshalb schon mehrmals von seinem Balkon gesprungen, "und zwar im Auftrag von Stimmen in seinem Kopf." Viktor hat das Gefühl, Didier würde ihn verstehen, wenn er ihm seine Geschichte erzählen würde.

"Ja, ich will es dir sagen", beginne ich, so als brauchte ich einen Anlauf. "Ich habe mich vor den Zug geworfen."
Ich sage es in relativ ruhigem Ton und, besonders wichtig,ohne Scham. Didier schlägt sich augenblicklich die Hände vors Gesicht und stösst ein lautes "Ach!" aus. Seine Reaktion erschreckt mich. Ihm laufen Tränen übers Gesicht. Habe ich ihm womöglich Angst gemacht, oder schlimmer: Habe ich durch mein Bekenntnis am Ende die Stimmen in seinem Kopf geweckt?
"Nein, wie furchtbar ..." stammelt er kaum hörbar.

Wenn also jemand wie Didier ihn nicht versteht, wie kann ihn dann überhaupt jemand verstehen? Viktors  Mutter brach weinend zusammen, als sie davon erfuhr, dem Vater wurde übel, er musste sich am Schreibtisch festhalten, um nicht hinzufallen. Doch muss man einen solchen Akt überhaupt verstehen?

Viktors Leben ist geprägt von Extremen, doch er kann daran nichts Schlechtes erkennen. "Denn entweder man lässt sich hundertprozentig auf etwas ein oder nicht."

In Psychologie-Büchern liest er über Borderline. "Die Symptome kamen mir beängstigend bekannt vor." Er schliesst sich einem Internet-Klub an, "der den Willen zum Selbstmord fast zur Voraussetzung für die virtuelle Mitgliedschaft machte." Auch nach seinem fehlgeschlagenen Versuch, will er immer noch tot sein.

Schliesslich wird er in einer Klinik im Allgäu mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert und bekommt ein Antidepressivum verschrieben, das ihm hilft. Zuerst ist er jedoch skeptisch: "Ein Antidepressivum? Was sollte ich damit? Bin ich denn wirklich depressiv? Ich fühle mich zwar schlecht, aber unter Depressionen stelle ich mir etwas anderes vor: den ganzen Tag herumhängen, nicht mehr essen wollen, sich tagelang nicht waschen."

Verblüfft an diesem Buch hat mich vor allem, wie wenig sich Viktor Staudt mit seinem Leiden auseinandersetzt, wie stark er einer Konfrontation damit ausweicht. Sicher, der Gedanke streift ihn schon, doch mehr als die Überlegung: "Vielleicht hätte ich ihre Diagnose nicht nur zur Kenntnis nehmen und ihren Abschlussbericht nicht zerreissen und wegwerfen sollen, um so dessen Existenz auszulöschen. Habe ich mir da etwas vorzuwerfen?" ist da eigentlich nicht.

Andrerseits gibt es da die Betreiberin einer Bar, die Viktor Staudt regelmässig beim Einkaufen sieht und die sagt: "Immer wenn ich Sie sehe, frage ich mich. Woher nimmt der Mann diese Energie? Es ist absolut inspirierend, Ihnen zuzusehen." Diese Energie teilt er mit diesem Buch. "Ich gebe nicht vor, allen helfen zu können, die depressiv sind oder sich mit Selbstmordgedanken tragen, schon allein weil ich kein Psychiater oder Psychologe bin. Allerdings meine ich, aus Erfahrung die Gefühle verstehen zu können und auch die Worte, die jemand mit den entsprechenden Problemen äussert. Und zuhören kann ich immer, sobald du anfängst zu reden."

Viktor Staudt
Die Geschichte meines Selbstmords
und wie ich das Leben wiederfand
Droemer Verlag, München 2014

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Dass jeder bei sich selber anfange ...

Zu wenige suchen nach innen, im eigenen Selbst, und noch zu wenige legen sich die Frage vor, ob nicht der menschlichen Gesellschaft am Ende dadurch am besten gedient sei, dass jeder bei sich selber anfange und jene Aufhebung der bisherigen Ordnung, jene Gesetze, jene Siege, die er auf allen Gassen predigt, zuerst und einzig und allein an seiner eigenen Person und in seinem eigenen inneren Staat erprobte, anstatt sie seinen Mitmenschen zuzumuten.

Jedem einzelnen tut Umsturz, innere Erzweiung (?), Auflösung des Bestehenden und Erneuerung not, nicht aber, dass er sie seinen Mitmenschen aufzwinge unter dem heuchlerischen Deckmantel christlicher Nächstenliebe oder sozialen Verantwortlichkeitsgefühls ...Selbstbestimmung des einzelnen, Rückkehr des einzelnen zum Grunde des menschlichen Wesens, zu seinem eigenen Wesen und dessen individueller und sozialer Bestimmtheit ist der Anfang zur Heilung der Blindheit, welche die gegenwärtige Stunde regiert.

C.G. Jung: Die Psychologie des Unbewussten, 1942