Mittwoch, 28. Mai 2014

Hilfe! Psychotherapie

"Ich halte Würde für das oberste und wichtigste Lebensziel, und die gewinnt man nicht durch Erfolg und Leistung, sondern nur durch die individuelle Wahrheit, die es zu finden und zu leben gilt", schreibt der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz im Vorwort, in dem er auch erwähnt, dass er seit 14 Jahren mit seiner Frau Dr. Ulrike Gedeon-Maaz, Psychiaterin, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin zusammen arbeitet. Maaz war zudem auch lange Zeit Chefarzt der Klinik  für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniekrankenhauses Halle. Mit anderen Worten: der Mann ist ein Vertreter des Systems, dem er kritisch gegenüber steht.

Von der Psychotherapie schreibt er, diese sei "niemals nur Kassenleistung zur Behandlung von Krankheiten, sondern stets auch Lebensform: die beharrliche kritische Auseinandersetzung mit Erkrankungen oder Konflikten auf der Suche nach dem aufrichtigen Weg." Klingt gut, und ist mir sympathisch, aber ob das auch die Realität ist?

"Dass Psychotherapie wirkt, ist wissenschaftlich gesichert. Ihre individuelle Anwendung aber bleibt eine Kunst und ist von ganz subjektiven Faktoren abhängig", so Maaz. Nun ja, mit der Wissenschaft und der Seele ist das so eine Sache, wie die beiden zusammengehen können ist mir völlig rätselhaft und ich hätte gerne mehr darüber erfahren ... für viele der seelischen Krankheiten, die Aufnahme in die DSM, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen, der Bibel der Psychiatrie, finden, gibt es jedenfalls keine wissenschaftliche Grundlage ...

Hans-Joachim Maaz hält nichts "von einer vorgeblichen Neutralität des Therapeuten", sondern betrachtet es "als seine Pflicht, die eigene Position gegenüber den Belangen des Patienten zu reflektieren." Doch was macht eigentlich ein Therapeut? Er exploriert, stellt Fragen, trifft mit dem Patienten Vereinbarungen, bestätigt, was bestätigt gehört, verbalisiert emotionale Erlebnisinhalte, konfrontiert, deutet, doch raten soll er nicht. "Rat soll der Psychotherapeut nicht oder nur selten geben, da es darauf ankommt, dass der Patient lernt, sich besser zu verstehen, und aus Erkenntnis und Einsicht zu seinen Entscheidungen findet. Psychotherapie ist Lehre zur Selbstberatung." Das Problem dabei ist, dass wir alle nicht sehr gut darin sind, auf unseren eigenen Rat zu hören.

Mein spezielles Augenmerk galt dem Kapitel über "Alkohol, Drogen, Medikamente und Psychotherapie" wo ich unter anderem las, dass Psychotherapie nur Erfolge bringen könne, "wenn deutliche Bereitschaft und ernsthafte Motivation gegeben sind." Das bedeutet: ohne vorgängige Abstinenz (denn nur darin zeigt sich die klare Bereitschaft und Motivation) kann Psychotherapie nichts bewirken. In den Worten von Hans-Joachim Maaz: "...was mit Substanzen betäubt wird, entzieht sich der therapeutischen Bearbeitung. Anders gesagt: Erst wenn Suchtmittel weggelassen werden, können die psychischen Inhalte, die mit Alkohol oder Drogen beeinflusst wurden, wieder spürbar und so der bewussten Bearbeitung zugeführt werden. Man kann es auch zugespitzt formulieren: Statt sich mit Drogen zuzudröhnen, entsteht die wesentliche Befreiung durch die zugelassenen Affekte – in der Regel aggressive, schmerzliche und traurige Gefühle – in einer einfühlsamen Beziehung." Ob die einfühlsame Beziehung wirklich die Lösung ist, sei einmal dahin gestellt, doch Süchtige oder Ex-Süchtige würden sicher gerne erfahren, wie man zu solch einer Beziehung kommt. Und die Nicht-Süchtigen sicher auch.

Hans-Joachim Maaz
Hilfe! Psychotherapie
Wie sie funktioniert und was sie leistet
Verlag C.H.Beck, München 2014

Mittwoch, 21. Mai 2014

Preparing yourself to die well

Robertson Davies: By preparation for death I don't mean folding your hands or going around forgiving a lot of people you don't want to forgive: it's preparing for a richness, a good and glorious end.

Tom Harpur: But how does one prepare?

Robertson Davies: You have to come to terms with yourself and your place in the scheme of life – something a good many people don't want to do. In the last century we have extended the normal life-span. Many seem to believe that this means we have extended the period when they should enjoy the things they enjoyed in youth. But, I don't think they realize that we've also expanded the period of life when we can learn to think, feel, and experience the largeness and splendor of life.

Conversations with Robertson Davies
Edited by J. Madison Davis
University Press of Mississippi
Jackson and London 1989

Mittwoch, 14. Mai 2014

Vom Leben mit einer schizophrenen Tochter

"Schizophrenie ist ein wenig wie Krebs", schreibt Michael Schofield im Vorwort zu seinem Bericht Ich will doch bloss sterben, Papa. Leben mit einer schizophrenen Tochter. "Man kann sich nie ganz sicher sein, dass er völlig verschwunden ist. Auch wenn man symptomfrei ist: Hatte man den Krebs einmal im Leben, so besteht bis zum letzten Atemzug die Gefahr, dass er zurückkehrt."

Michael Schofield, dessen Tochter Janni an Schizophrenie leidet, ist Dozent an der California State University, Northridge. Zusammen mit seiner Frau Susan gründete er die Jani Foundation zur Unterstützung psychisch kranker Kinder und deren Eltern (www.janifoundation.org).

Mit neun wolle sie sterben, sagte die kleine Janni, weil sie schizophren sei. Der Arzt fragte sie, was es ihrer Meinung nach bedeute, schizophren zu sein. "Ich sehe und höre Zeug, das es nicht gibt", erklärte sie ihm..

Niemand weiss, wodurch Schizophrenie ausgelöst wird. Die derzeit gängigste Theorie behauptet, es handle sich womöglich um eine "der Alzheimerkrankheit verwandte neurodegenerative, biochemische Hirnschädigung."

Janni lebt in ihrer eigenen Welt, ist eigensinnig, gänzlich unberechenbar und hat im Alter von vier Jahren das geistige Vermögen einer Zehn- bis Elfjährigen. Die auf Autismus ("Autismus ist die aktuelle Modediagnose, genau wie Hyperaktivität zu meiner Kindheit") spezialisierte Therapeutin empfiehlt eine Schule für Hochbegabte.

Für ihre Eltern ist dieses Kind eine ungeheure Herausforderung. "Janni wirkt völlig abgekapselt, wie sie da mit gekrümmtem Rücken im dämmrigen Zimmer sitzt; neben ihr Violet, die sich bemüht, zu ihr durchzudringen, ihre Freundin zu sein. Janni ist die Laura aus der Glasmenagerie, gefangen in ihrer eigenen Welt. Ein Schluchzen steigt mir die Kehle hoch, doch ich kämpfe es zurück. Nein, ich steigere mich hier in etwas hinein. Das ist nur eine vorübergehende Phase. Janni wird das überwinden", schreibt der Vater, der sich ständig Sorgen um seine Tochter macht, unter Schlafentzug und dem Zwang, die Kleine andauernd zu beschäftigen, leidet.

Michael und Susan Schofield entschliessen sich zu einem zweiten Kind. "Ich wollte Bodhi aus einem und nur einem Grund: weil Janni sich ein Geschwisterchen wünschte", hält Michael fest. Die Kleine terrorisiert ihre Eltern und diese lassen sich terrorisieren, schaffen es nicht, streng mit ihr zu sein, ihr Grenzen zu setzen.

Janni geht mit Fäusten und Tritten auf die Mutter los, kündigt emotionslos an, sie werde ihrem kleinen Bruder wehtun. Wieso? Weil er schreit, sagt sie. "Diese Gewaltausbrüche sind ebenso unvermittelt vorbei, wie sie begonnen haben." Das Familienleben wird zum Albtraum.

Die Eltern wenden sich an eine Kinderpsychologin, die völlig überfordert ist und selber Hilfe bräuchte. Dann landen sie bei einer Psychiaterin, die ihr ein sedierendes Mittel verschreibt, das bei Janni nicht den geringsten Effekt zeigt, bei ihrem Vater jedoch, der dieselbe Dosis genommen hat und fünfmal so viel wiegt wie seine Tochter, wie eine Bombe einschlägt.

Der Neurologe tippt auf ADHS, worunter auch Michael leidet und deswegen ein Antidepressivum nimmt. Doch die Medikamente wirken bei Janni nicht, schliesslich landet sie in der Psychiatrie, wo sie sich wohl zu fühlen scheint. Nach zwei Wochen wird sie entlassen, ist aber noch genau so gewalttätig wie zuvor, die Eltern bringen sie wieder zurück in die Klinik. Dann werden die Behörden aktiv, es liege eine Anzeige auf Kindsmissbrauch vor ...

Ich will doch bloss sterben, Papa ist ein zutiefst aufwühlendes Buch über einen Vater, der nicht aufgibt, seine sehr kranke und schwierige Tochter, deren Verhalten in vielem seinem eigenen gleicht, retten zu wollen und dabei selber fast drauf geht.

Michael Schofield
Ich will doch bloss sterben, Papa
Leben mit einer schizophrenen Tochter
Kösel-Verlag, München 2014

Mittwoch, 7. Mai 2014

Eine Depression lasse ich nicht mehr zu

Wüsste man nicht, dass der Autor dieses autobiografischen Berichts Filmemacher ist, würde man es nach diesem fulminanten Auftakt vermuten: "Ich hätte mich ohrfeigen können. Freiwillig war ich in die Klinik eingetreten, auf Anraten meines Psychiaters Dr. K. Zuvor hatten wir es drei Monate lang mit ambulanter Gesprächstherapie und Psychopharmaka versucht. Vergeblich." Wer würde da nicht wissen wollen, wie es weitergeht? Rolf Lyssy, es ist offensichtlich, hat ein Händchen für Dramaturgie.

"Swiss Paradise" berichtet von einer Höllenfahrt in einen "endlosen schwarzen Tunnel" und beschreibt unter anderem wie Lyssy sich an der Premiere von Fredi Murers Spielfilm Vollmond seltsam entrückt fühlte: "Ich nahm zwar alle und alles wahr, gleichzeitig hatte ich den Eindruck, als ob ich nicht dazugehörte, als ob unsichtbare Wände zwischen mir und den Menschen bestehen würden." Er erhält die Diagnose schwere Depression, kriegt Medikamente verschrieben, kann jedoch vorerst keine Wirkung erkennen. Eine Randbemerkung: wer sich dafür interessiert, weshalb Anti-Depressiva häufig nicht wirken, sollte James Davies' Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good lesen.

In der Klinik erhält er den Rat, seinen inneren Widerstand gegen die Krankheit aufzugeben. Und natürlich wehrt er sich dagegen, weil er, wie fast alle, die unter psychischen Störungen leiden, nicht versteht (kein Wunder, woher auch?), dass das Akzeptieren der Störung die Grundbedingung für eine mögliche Genesung ist.

Ohne Hoffnung sei der Mensch prinzipiell nicht lebensfähig, schreibt Lyssy. "Wenn der Mensch nicht mehr hoffen kann, aus was für Gründen auch immer, dann vegetiert er nur noch." Das sehe ich ganz anders. So sehr wir Erwachsenen die Hoffnung auch brauchen, so sehr hindert sie uns eben auch, gegenwärtig, ganz im Hier und Jetzt, zu sein.

Seine Tage in der Klinik sind geprägt von Lustlosigkeit, Antriebslosigkeit, und Entscheidungsunfähigkeit. Auf das routinemässige Erkunden des Arztes nach Schlaf, Appetit, Verdauung und Grübelzwang, antwortet er "genauso routinemässig: 'Ich schlafe gut, mein Appetit ist ausgezeichnet, die Verdauung funktioniert nicht, der Grübelzwang hält unvermindert an.' Und alles nur dank der Chemie, aber das behielt ich für mich. Tatsächlich äusserte sich als Nebenwirkung der Medikamente mein 'ausgezeichneter Appetit' in Form eines derart intensiven Hungergefühls, wie ich es nie zuvor gekannt hatte ...".

À propos Entscheidungsunfähigkeit: Lyssy schildert diese sehr detailliert und auch deswegen gut nachvollziehbar. Und wunderbar anschaulich: "Mein Hirn hatte etwas von einem Netz, prall gefüllt mit zappelnden Fischen, die nach Wasser schnappten."

Immer mal wieder verspürt er Angst, er müsste womöglich für ewig in der Klinik bleiben. Lithium und Schlafentzug werden als Therapie vorgeschlagen. Er erinnert sich an die freimütige Aussage eines Mediziners, dass psychiatrische Therapie nichts anderes als trial and error sei, und meint trocken, mit der error-Erfahrung sei er mittlerweile vertraut. Was ihn schliesslich rettet und von der Depression erlöst, ist eine Mischung unterschiedlichster Faktoren zu denen Lithium, die sich an der unmittelbaren Gegenwart orientierende Verhaltenstherapie und die Zeit gehören.

"Swiss Paradise" erzählt die Geschichte von Rolf Lyssys Depression eingebettet in seine bewegende Familiengeschichte (das Buch enthält auch den gut geschriebenen und beeindruckenden {wiewohl lückenhaften, der Sohn weist darauf hin wie auch auf seine diesbezüglichen Recherchen} Lebensbericht der Mutter, einer deutschen Jüdin mit russischen Wurzeln, die es in jungen Jahren in die Schweiz verschlug) und in ein Stück Schweizer Filmgeschichte, womit dieses Werk, wie es Urs Widmer im Vorwort formuliert, "ein gewaltiges Stück Welthaltigkeit hinzu" gewinnt. Und darüber hinaus klar macht, dass eine seelische Krankheit nie isoliert, sondern immer auch im grösseren Ganzen gesehen werden muss.

Rolf Lyssy
Ein autobiografischer Bericht
Rüffer und Rub Verlag Zürich