Mittwoch, 27. Februar 2013

Die narzisstische Gesellschaft

Die Tragik der narzisstischen Störung, so Hans-Joachim Maaz, liege darin, dass man sie nicht mehr loswerde, aber mit ihr auch nur schlecht leben könne. Das ist auch bei anderen seelischen Störungen so, ist man da sofort versucht einzuwerfen. Und das gilt auch noch für einiges Andere, das Maaz über die narzisstische Störung zu berichten weiss, denn die Überlappungen der verschiedenen seelischen Krankheitsbilder sind bekanntlich mannigfaltig.

Doch was ist eigentlich Narzissmus? Maaz zitiert den Zürcher Psychoanalytiker Emilio Modena: "Das Selbst entwickelt sich kontinuierlich vom frühen Säuglings- bis zum Erwachsenenalter als Produkt einer einfühlenden spiegelnden Umwelt, in deren Zentrum in der frühen Kindheit die Mutter (das 'Selbstobjekt') steht. Versagt diese ... den Dienst ... können sich die angeborenen Fähigkeiten des Kindes nicht entwickeln, was zu einer narzisstischen Störung führt, zu einem schwachen, mangelhaft integrierten Selbst, welches ... von Fragmentierung bedroht ist."

Gemäss Maaz gibt es den gesunden wie auch den pathologischen Narzissmus, er versteht narzisstische Störungen als "verhinderte und mithin eingeschränkte Selbstliebe". Der narzisstisch gestörte Mensch ist ein abhängiger Mensch, der zwischen Idealisierung und Entwertung pendelt, unfähig zur Empathie. "Ein Narzisst liebt nicht, er will geliebt werden, er meint den Nächsten nicht, er braucht ihn, er spürt nicht, was mit dem anderen ist, er nimmt nur wahr, wie der andere zu ihm steht: brauchbar oder nutzlos, Freund oder Feind."

Vermutlich kennt jeder jemanden, auf den diese Charakterisierung zuzutreffen scheint, doch kann das sein, gibt es wirklich Menschen, die nicht lieben können? Und falls ja, wie misst man das, woran kann man das festmachen?

"Die mangelnde Liebe ist die Hauptquelle narzisstischer Störungen. Wer nicht ausreichend gespiegelt und bestätigt wurde, der bleibt ein Leben lang abhängig von der Zustimmung anderer." Schwer vorstellbar, dass heutzutage noch jemand die Wichtigkeit der ersten Lebensjahre unterschätzen würde. Maaz erwähnt, dass "die frühe Entwicklung des Gehirns, die Art der neuronalen Vernetzung, sehr stark von den ersten Beziehungserfahrungen des Menschen abhängig ist".  Und dass die neueste Forschung zur 'Epigenetik' sogar davon ausgehe, dass der Einfluss der frühen Beziehungserfahrungen sich selbst auf die Gene erstrecke. Andrerseits sind Sarah Bakewells Bemerkungen zum Aufwachsen Montaignes, das war im 16. Jahrhundert (in: Wie soll ich leben? oder Das Leben Montaignes in einer Frage und zwanzig Antworten) unbedingt des Nachdenkens wert: "Eine Bäuerin als Amme zu nehmen war damals nichts Ungewöhnliches, aber Montaignes Vater wollte, dass sein Sohn die Gepflogenheiten der einfachen Leute gleichsam mit der Muttermilch aufnahm, und deshalb wuchs Montaigne bei den Leuten auf, die der Hilfe eines seigneur am meisten bedurften ... Wenn wir von den entwicklungspsychologischen Ideen des 20. und 21. Jahrhunderts ausgehen (die sich vielleicht bald als fragwürdig erweisen werden: vielleicht ist die Mutter-Kind-Bindung ein ebenso kurzlebiges, kulturell bedingtes Phänomen wie das Gestilltwerden durch eine Amme), so muss der mangelnde Kontakt zu den Eltern in den entscheidenden ersten Lebensmonaten Montaignes Beziehung zu seiner Mutter tiefgreifend geprägt haben. Montaignes eigener Einschätzung nach jedoch funktionierte der Plan perfekt, und er empfahl seinen Lesern, mit ihren Kindern möglichst dasselbe zu tun: 'Überlass es dem Schicksal, sie nach den natürlichen und landläufigen Gesetzen heranzubilden."

Hans-Joachim Maaz meint, dass narzisstische Störungen nicht geheilt werden können, "aber sie müssen reguliert werden. Falsche Regulationen sind die Quelle von Selbst- bezw. Fremdbeschädigungen." Das trifft übrigens auch auf Suchtabhängigkeiten zu.

Was also ist zu tun? Maaz schlägt "eine Verbesserung der Kompensations- und Ablenkungsmöglichkeiten" vor, diese ist überlebensnotwendig, auch wenn dadurch die narzisstischen Störungen verleugnet und überdeckt werden. Dazu kommt die Gefühlsarbeit und das meint, "die Möglichkeit, frühe Gefühle zum Ausdruck zu bringen, etwa Wut über verletzende Behandlung, Schmerz über den Liebesmangel und Trauer über verhinderte und damit verlorene Lebensmöglichkeiten."

Als ein "schonungsloses, klarsichtiges Psychogramm unserer orientierungslosen Gier- und Konsumgesellschaft" preist der Verlag das Buch an. Da habe ich offenbar ein anderes Buch gelesen, denn um Gesellschaftliches geht es zwar auch ("In der Politik schneidert sich die narzisstische Kompensation ein Königskleid: grosse Worte, grosse Versprechungen, die aufgesetzte Souveränität, die vorgegaukelte Sicherheit, das wunderbar verpackte Nichtwissen, rhetorisch-eloquente Scheingefechte liefern das schillernde Als-ob-Kostüm und keiner will erkennen, dass der Kaiser nackt ist"), doch in der Hauptsache geht es darum, was die narzisstische Störung ausmacht und wie man damit klar kommen kann.

"Die narzisstische Gesellschaft" ist ein differenziertes, anregendes, aufklärendes und sympathisches Buch, nicht zuletzt, weil es erfreulich persönlich geschrieben ist, sich der Autor als empfindsamer, gescheiter und lernfähiger Mensch zeigt, und nicht als der typische Experte, der sich hinter seinem Fachwissen versteckt. Seine eigene Geschichte zeigt übrigens exemplarisch auf, dass man (und das gilt bei allen seelischen Störungen) an seinen persönlichen Tiefpunkt kommen muss, ja, es manchmal einer tödlichen Bedrohung bedarf, um "die Mauer der narzisstischen Abwehr zu durchbrechen". 'The readiness is all', sagt Horatio in Hamlet.

Hans-Joachim Maaz
Die narzisstische Gesellschaft
Ein Psychogramm
Verlag C.H. Beck, München 2013
www.chbeck.de

Mittwoch, 20. Februar 2013

Bindung und Sucht

Studien würden zeigen, lese ich im Vorwort, dass die Sucht oft damit beginne, "dass grosser Stress, wie er etwa durch schwierige psychische Entwicklungsbedingungen, traumatische Erfahrungen, unlösbare Konfliktsituationen und Ähnliches entstehen kann, nicht mehr gelöst werden kann. Versuchsweise – oft eher zufällig und als 'Notlösung' – wird gegen den Stress ein Suchtmittel eingesetzt, statt eine Bindungsperson zu rufen, um mit ihrer Hilfe den Stress unter Kontrolle zu bekommen oder abzubauen." Gemäss dieser Auffassung ist das Suchtmittel ein "Bindungsperson-'Surrogat'". Anders gesagt: die kurzfristige, rasche Entspannung, die nach dem Gebrauch des Suchtmittels eintritt, hätte auch durch die emotionale Unterstützung der Bindungsperson erfolgen können. Sicher, man kann sich das unschwer vorstellen, doch wie man das beweisen will, ist mir ziemlich schleierhaft.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Konferenz über Bindung und Sucht (Attachment and Addiction) vom 15. und 16. Oktober 2011 in München. Die Themen sind vielfältig und gehen von der "Internet- und Computerspielsucht bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen" bis zu "Gender – Trauma – Sucht und Bindung: Phänomenologie, Wechselwirkungen, Gegenstrategien".

Auf den Beitrag "Die Bindungstheorie in ihrer Relevanz für die Suchtbehandlung" von Philip J. Flores war ich besonders neugierig, er hält fest: "Um erfolgreich mit ihrer Sucht umzugehen, muss die betreffende Person lernen, 'gesunde' Beziehungen einzugehen. Diese äusserst simple Wiedergabe der Bindungstheorie trifft zwar den Kern der Sache, wird aber den grossen Schwierigkeiten nicht gerecht, die mit der Bewältigung eines so unspektakulären Verhaltens verbunden sind." Was zu geschehen hat, ist dies: zunächst muss die Bindung an die Droge gekappt und dann die "Fähigkeit zu geglückten interpersonalen Bindungen" entwickelt werden. Das ist so in etwa, und Flores weist darauf hin, worum es beim 12-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker geht.

Fast jeder Beitrag in diesem Band weist daraufhin, dass "eine sichere Bindung einen Schutzfaktor gegen und eine unsichere Bindung einen Risikofaktor für späteren Substanzmissbrauch darstellt." Sucht lasse sich als Bindungsstörung verstehen, meint Andreas Schindler, und fügt hinzu: "Bindung scheint eine Sucht zu sein, von der nur Suppenschildkröten frei sind. Bei allen anderen kann das Bindungsbedürfnis von Suchtmitteln in Geiselhaft genommen werden." Noch einmal: "Bindung scheint eine Sucht zu sein ...". Ob der Mann eigentlich weiss, was Sucht (das kommt von siech und das meint krank) ist?

So recht eigentlich lässt sich dieser Band in einem Satz zusammenfassen: "Die Herausbildung einer sicheren Bindung ist ein Schutzfaktor für das sich entwickelnde kleine Kind, während eine unsichere Bindung mit negativen Folgen verbunden ist, die über die Kindheit und die Adoleszenz hinaus noch bis ins Erwachsenenalter reichen." (S. 151). Ich hätte gerne erfahren, wie das jetzt praktisch geht, dass man von einer unsicheren Bindung zu einer sicheren gelangt, doch leider bietet dieser Band diesbezüglich ("Ist erst einmal das Suchtmittel zur 'festen Bindungsperson' geworden, wird die Therapie schwierig", lese ich auf dem Buchrücken) nicht gerade viel: "In der Therapie geht es darum, eine sichere therapeutische Bindung aufzubauen und in einer mehrere Perspektiven umfassenden Behandlung traumatische Erfahrungen, Sucht und auch psychosoziale Probleme im Auge zu behalten; dadurch können dem Klienten in der therapeutischen Beziehung neue Möglichkeiten der Stressregulation vermittelt werden", meint Herausgeber Brisch. Das ist zwar etwas theoretisch, doch durchaus einleuchtend, nur schreibt derselbe Mann auch: "Das Suchtmittel kann nur dann entzogen werden, wenn in der Therapie neue, intensive, sichere Bindungserfahrungen zur Verfügung gestellt werden können." Ob der Süchtige sich wirklich so lange gedulden kann?

Karl Heinz Brisch (Hrsg.)
Bindung und Sucht
Klett-Cotta, Stuttgart 2013

Mittwoch, 13. Februar 2013

"Arschtritt"

Zehn Jahre lang suchte der Journalist Holger Senzel in Therapien die Lösung für seine Probleme und Konflikte. Doch da die Innenschau ihn nicht aus der Depression zurück ins Leben brachte, versuchte er es von aussen. Nicht etwa, dass das dann sofort funktioniert hätte, doch: "Um Niederlagen zu kreisen, bringt mich selten weiter. Es spielt auch keine Rolle, warum ich gestern schwach war. Heute werde ich stark sein!"

In Therapien, so Senzel, geht es um Erkenntnisgewinn. Wie das Leben nach der Klinik aussehen sollte, darüber werde kaum gesprochen, dafür um so mehr über Gefühle und die möglichen Ursachen seines selbstzerstörerischen Verhaltens: "Ich lüge und betrüge, weil ich Liebe und Anerkennung suche – sehr verkürzt gesagt ... Meine Freunde dagegen sagten es mir in aller Deutlichkeit: Dass ich unreif und rücksichtslos auf den Gefühlen anderer herumtrampelte und mich nicht wundern müsste, dafür die Quittung zu bekommen."

Erstaunlich finde ich, dass einer zehn Jahre lang in Therapien geht, bevor er merkt: "Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wühlen in alten Wunden viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum grossen Lebensthema – statt einfach einmal die Zähne zusammenzubeissen und sie wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören."

Woran liegt's, dass viele nicht merken, dass Therapien oft alles andere als hilfreich sind? Nun ja, wir leben in psychologisierten Zeiten, in denen uns beigebracht wird, dass, falls eine Therapie nichts bringt, die Schuld bei uns liegt. Kommt dazu, dass eine Therapie zu machen, in gewissen Kreisen sehr schick ist – den Dingen auf den Grund zu gehen, adelt einen da geradezu.

Doch dann macht sich Holger Senzel sein eigenes Programm. Vorbild ist ihm dabei seine Omi, die ganz einfach gemacht hat, was gemacht werden muss. Und so macht er einen Vertrag mit sich selbst: kein Alkohol, kein Tabak, keine Süssigkeiten, gesunde Ernährung, Sport etc. Für vier Wochen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, wird wieder neu angefangen.

Am Rande: in seinem Vertrag mit sich selber findet sich auch "Ich werde nur noch 'gute Bücher' lesen (Liste machen!)." Von einem London-Korrespondenten der ARD hätte ich eigentlich erwartet, dass er eh 'gute Bücher' liest oder anders gesagt, von jemandem, der das nicht tut, mag ich mir eigentlich weder London noch die Welt erklären lassen.

Am 1. Tag scheitert er. Und beginnt gerade noch einmal mit Tag 1 ... und scheitert dann am Tag 2. Also wieder zurück zu Tag 1 .... Der Autor lässt den Leser an seinen Erfahrungen mit seinem Drillsergeant ("Mach einfach! Dein Gejammer ändert nix!") und seinen Allerweltseinsichten ("Manchmal muss man sich zu neuen Erfahrungen auch zwingen, denen man sich zuvor aus Trägheit und Angst verschlossen hat.") teilhaben und macht damit vor allem klar, dass es bei der Genesung ums Tun geht. Und dass tun von tun kommt. Ja, das ist banal, aber es ist eben auch wahr.

Grosse Literatur schreibt Holger Senzel nicht, doch was er schreibt, ist von praktischem Wert. "Es ist das dritte Mal, dass ich scheinbar so grundlos in die Schwermut rutschte. Drei Abende in zwei Wochen. Aber sie sind auch vorbeigegangen. Vielleicht gehört das zum Leben einfach dazu: Trauer, Zweifel, Einsamkeit. Denk mal an den Doktor Faust. An Dorian Gray. Beethoven. Die alle haben dieselben miesen Nächste durchgemacht. Ich muss da einfach irgendwie durch. Es aushalten. Auch diese Nacht wird mich nicht umbringen. Und natürlich werde ich mich nach langen, schlaflosen Stunden fruchtlosen Grübelns auch morgen früh wieder ins Fitnessstudio schleppen. Und mich hinterher besser fühlen. Ich bin nicht ausgeliefert."

An "Arschtritt" überzeugt, dass am konkreten Beispiel vorgeführt wird, wie Genesung funktionieren kann. Und dabei deutlich gemacht wird, dass mit Selbstdisziplin ("meiner Grossoffensive gegen den inneren Schweinehund") viel geht, und ohne gar nichts.

Sehr schön übrigens, Holger Senzels Credo: "Den Schlüssel zu meinem Herzen – nah bei seinen Gefühlen sein, würde es in der Therapie heissen –  finde ich nicht durch das Graben in der eigenen Seele. Sondern durch offene Augen und das Interesse an anderen Menschen."

Holger Senzel
"Arschtritt"
Mein Weg aus der Depression zurück ins Leben
Südwest Verlag, München 2011

Mittwoch, 6. Februar 2013

Inconsequential Things

The Buddha said that the human condition is like that of a person shot with an arrow. It is both painful and urgent. But instead of getting immediate help for our affliction, we ask for details about the bow from which the arrow was shot. We ask who made the arrow. We want to know about the appearance and background of the person who strung the bow. We ask about many things – inconsequential things – while overlooking our immediate problem. We ask about origins and ends, but we leave the moment forgotten. We leave it forgotten even though we live in it.
We must first learn how to journey into now.

Steve Hagen
Buddhism. Plain & Simple