"Seelenpfade, das sind Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen Rhythmus finden, der uns vorwärts trägt." Zugegeben, ich lese diesen Satz mit gemischten Gefühlen, glaube nicht, dass mich im Einklang mit mir selber fühlen von einem bestimmten Weg oder Pfad abhängt, doch ebenso gilt: Es gibt eindeutig Gegenden, die meiner Seele zuträglicher sind als andere. Der Untertitel "Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden" ist jedoch gar nichts für mich – ich habe mich nie verloren, habe nur ganz verschiedene Variationen meines Ichs erlebt.
Die befürchtete Esoterik bleibt dann Gott sei Dank aus. Bereits auf den ersten Seiten stosse ich auf so schöne Formulierungen wie "Ruhe in der Bewegung" und so erhellende Sätze wie "Das befreit uns von einer der schlimmsten Geisseln unserer Epoche: dem dauernden Sich-entscheiden-Müssen." Und: "Wandern schafft Zufälle. Wir begegnen am Weg, wem wir eben begegnen. Was wir daraus machen, bleibt uns überlassen."
Sebastian Schoepp war lange Jahre bei der Süddeutschen als aussenpolitischer Redakteur für Spanien und Lateinamerika zuständig. Sein damaliger Alltag war die gängige Massenexistenz, von der erstaunlich viele glauben, sie sei persönlich und individuell. Als erdrückende Hierarchien, Arbeitsstress und gehetzte Daueraufgeregtheit charakterisiert er sie. Als er sich zusammen mit einem Freund zu Fuss von Darmstadt nach Heidelberg aufmacht, "fühle ich eine vergessene Entdeckerfreude in mir erwachen, ein ganz ähnliches Gefühl wie damals, als ich das erste Mal nach Buenos Aires flog und der schachbrettartige Grundriss der Stadt unter mir auftauchte wie eine Verheissung. Nun eben Frankfurt. Na und?"
Ich kann mich bestens identifizieren mit diesen Gefühlen, denn ich habe selber auch viel Zeit fern meines Schweizer Herkunftslands verbracht, und erst im Alter entdeckt, was stets vor meiner Nase lag. Vielleicht ist dieses Nicht-Sehen-Können dessen, was nahe liegt, ja auch eine Frage des Alters. Allerdings im Verbund mit der Neugier, die ich für ein Charaktermerkmal halte.
Seelenpfade erzählt von Sebastian Schoepps Umgang mit dem Leben. Der Wettbewerbsgedanke, dem sich die Mehrheit völlig hirnlos verschrieben hat, nervt ihn nicht nur, er will davon weg, denn sich ihm zu unterwerfen, macht ihn krank. So recht eigentlich macht der Wettbewerb (bei dem es ums Gewinnen und nicht etwa ums Mitmachen geht, wie uns die Schule belügt) sehr viele krank – dass wir in einer rundum kranken Welt leben, ist genauso offensichtlich, wie dass die meisten davon nichts wissen wollen.
Er sucht einen Gegenpol zum Leistungscredo der Arbeitswelt, macht diverse Abstecher. "Ich kannte Santa Cruz de la Sierra, Querétaro, Puerto Madryn, Cartagena de Indias, Valparaíso. Aber Tuttlingen? Bingen? Weinheim? Gütersloh? Miltenberg? Zittau? Detmold? Bad Bergzabern? Keine Ahnung. Inzwischen bin ich dort überall gewesen, und zwar zu Fuss."
Mittlerweile kommt ihm Deutschland wie "ein einziger grosser Geheimtipp" vor, beim Wandern erlebt er ein Gefühl von Freiheit und erfährt Welten, die sich nicht nur in verschiedenen Landschaften und lokalen Besonderheiten, sondern auch in den verschiedenen Dialekten ausdrücken. "In meiner Jugend stand 'Heimat' für Enge und Spiessigkeit, heute ist allenthalben eine Sehnsucht nach ihr zu entdecken, eine mögliche Folge des modernen Zwangs zur Mobilität." Auch wenn mir die Sehnsucht zur Heimat (ich weiss bis heute nicht recht, was Heimat eigentlich ist) abgeht, das Gefühl von Enge und Spiessigkeit in der Jugend kenne ich auch. Zudem scheint mir der Zwang zur Mobilität Hand in Hand zu gehen mit der Globalisierung, die zu einer einschläfernden Gleichförmigkeit geführt hat.
Seelenpfade ist informativ und kurzweilig (so erfährt man unter anderem, dass Breschnew, dem man einen Mercedes als Gastgeschenk{!}überlassen hatte, diesen in einer Kurve in den Graben fuhr), gemahnt gelegentlich auch eine aufschlussreiche Geschichtsstunde über die jüngere Vergangenheit, doch in der Hauptsache ist es eine reflektierte, praktisch-pragmatische und wunderbar anregende Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben soll.
Als einer, der viel seiner Lebenszeit ausserhalb von Deutschland verbracht hat, ist er sich bewusst, dass Aufenthalte in fernen Ländern ja oft auch der Versuch sind, ein anderer zu werden. Es ist ihm nicht gelungen, im Kern ist er der geblieben, der er immer gewesen ist. Ich teile diese Erfahrung, habe in meinen Jahren fern der Schweiz vor allem herausgefunden, wie
schweizerisch ich bin. Und doch hat sich etwas geändert, schliesslich ist man anders in und auf der Welt, wenn sich der eigene Horizont erweitert hat, wozu auch Kopfreisen beitragen, so man sie denn wahrnimmt.
Es gibt Sätze in diesem Buch, die haben mich richtiggehend erwischt. Zu diesen gehört: "Stimmiges aber scheint uns innerlich zu verstören." Zu lernen, dass Kinder, so Bruce Chatwin, nicht still liegen können und herumgetragen werden wollen, und dass moderne Nomaden, von den Roma bis zu den Beduinen, verfolgt werden, weil sie die stabile Ordnung bedrohen, waren echte Augenöffner. "Der trotzige Rat der unruhigen Olga Tokarczuk: 'Beweg dich, beweg dich. Gesegnet sei, wer geht.'"
Es versteht sich: Es gibt ganz unterschiedliche Arten des Gehens. Da sind zum Beispiel die, die das Gehen als Leistungssport betreiben, wie die junge Mexikanerin neben mir auf dem Flug von Bogota nach La Paz, die strahlt, als ich ihr sage, für mich sehe das nach Tanzen aus. Mir selber steht die langsame Gangart näher, die Sebastian Schoepp als das "toskanische Einen-Schritt-vor-den-anderen-Setzen" bezeichnet. Eine bessere Lebensphilosophie kenne ich nicht.
Neben dem Autor kommen auch ganz viele andere Wanderer zu Wort, berühmte und weniger berühmte. Besonders angesprochent haben mich die Gedanken von Sabrina Radeck, mit denen ich mich bestens identifizieren kann. Sie beginnen so: "Ich mache mich merkwürdigerweise nie auf den Weg, um die Natur zu geniessen. Ich mache mich eher auf den Weg, um mich in der Natur oder auf dem Weg selbst zu erfahren ...".
.Seelenpfade schildert höchst anschaulich eine Entdeckungsreise in ein Deutschland, das einem gelegentlich vorkommt wie aus längst vergangener Zeit, was natürlich auch damit zu tun hat, dass die meisten die Welt nur noch aus den Medien kennen. Dabei erfährt Sebastian Schoepp auch sich selber anders bzw. neu, entdeckt an sich Seiten, gegen die sich sein Über-Ich zwar nach wie vor wehrt, die ihm aber eben auch die Möglichkeit eröffnet, ziemlich gelassen sich selber zu sein.
Fazit: Lehrreich, inspirierend, hilfreich – und oft zum Schmunzeln einladend.
Sebastian Schoepp
Seelenpfade
Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025