Dass dies ein aussergewöhnliches Buch ist, war mir bereits auf den ersten Seiten klar. Des Tons, aber auch der Sprache und der Einsichten wegen. Doch vor allem war da eine Lebensbejahung, die mich begeisterte. Er habe eine glückliche Jugend gehabt und nie einen metaphysischen Zweifel gekannt, notiert der Autor. „Gewiss hatte ich – wie alle Kinder – meine Nöte und Kümmernisse. Doch ich muss gestehen: An sie erinnere ich mich nicht mehr.“ Wunderbar! Auch natürlich, weil ich diese Erfahrung teile.
Ich kann mich nicht erinnern, je eine Kindheitserinnerung gelesen zu haben, die ich als derart lebensvertrauend empfunden habe. Er fühlte sich getragen, seine Eltern liebten ihn. Kinder wissen das, weil sie „alles mit ihrem ganzen Sein begreifen, wir (Erwachsenen) dagegen nur mit unserem Kopf.“
Das Licht war für den kleinen Jacques schon früh bedeutsam. „Das Licht übte auf mich einen faszinierenden Zauber aus. Ich sah es überall, und ich betrachtete es stundenlang.“ Dann, durch einen Unfall, wird er blind. „Jeden Tag danke ich dem Himmel dafür, dass er mich schon als Kind von noch nicht ganz acht Jahren blind werden liess.“ Natürlich bedarf das einer Erklärung. Und die liefert der Autor dann auch. Lesen Sie selbst, es lohnt ...
Er hadert nicht, erlebt alles neu, und vor allem, dass alles ständig im Fluss, die Vorstellung von Anfang und Ende falsch ist. Er erfährt eine ganz wundervolle Lebensenergie, die allerdings zu versiegen droht, wenn sich Angst, Zorn, Ungeduld und Bösartigkeit einstellen. Oder wenn er beim Spiel unbedingt gewinnen will. Für Jacques Lusseyran ist alles belebt, er fühlt dies, er spürt es, er erlebt es.
Die Blindheit, notiert er, erweitert „die inneren Erfahrungen auf Kosten der äusseren bis ins Masslose.“ Auf dem Land tut er sich leichter mit ihr als in Paris, wo die Strasse ein Labyrinth von Geräuschen ist. Doch generell gilt: „Die Blindheit ist in der Welt der Sehenden nicht sehr willkommen. Sie ist so wenig bekannt und, so kann man fast sagen, so gefürchtet!“ Dadurch birgt sie die Gefahr der Isolation. Auch sind Blinde immer abhängig von anderen, was Jacques Lusseyran allerdings nicht als Unglück, sondern einfach als Tatsache sieht, mit der umzugehen ist. Schliesslich sind auch Sehende mannigfaltig abhängig.
Das wiedergefundene Licht ist das Werk eines höchst eigenständigen Denkers ( Jacques Lusseyran lehrte nach dem Krieg als Philosophieprofessor in Frankreich und den USA), der das Leben als Geschenk begreift. Was er über die Erfahrungen von Kindern schreibt, sollte Erwachsenen eine Lehre sein. „Für einen Achtjährigen 'ist' was ist, und es ist immer das Beste. Er kennt keine Bitterkeit und keinen Groll. Er kann zwar das Gefühl haben, ungerecht behandelt worden zu sein, doch er hat es nur dann, wenn ihm die Ungerechtigkeit durch Menschen zuteil wird. Die Ereignisse sind für ihn Zeichen Gottes.“
Immer mal wieder unterbreche ich meine Lektüre, halte inne, denn was dieses Buch in Fülle vermittelt, sind ganz verschiedenartige und überaus erhellende Einsichten, bei denen sich zu verweilen lohnt. „Paris war wie alle Städte eine Schule des Egoismus.“ Oder: „Wie könnte man hoffen, dass eine Schule, ein Ausschuss oder gar eine Verwaltungsbehörde, dass Ämter, die nur kraft ihrer Gewohnheiten – das heisst ihres Durchschnitts – überleben, mit Wohlwollen auf Ausnahmen blicken?"
Das wiedergefundene Licht trägt auf vielfältigste Art und Weise zur Bewusstseinsbildung bei. So etwa, wenn der Autor darauf hinweist, dass es nichts auf der Welt gibt, was nicht durch ein anderes ersetzt werden könnte. Oder wenn er über die einschläfernde Macht der Gewohnheit festhält. „Der Knabe tut alles aufmerksam, der Mann tut alles nur noch gewohnheitsmässig.“ Oder wenn er über seine Entdeckung von Shakespeare berichtet, dessen Geist er also ebenso komplex bezeichnet wie das Leben.
Auch vom Krieg ist die Rede, wenn auch anders als gemeinhin üblich. Plötzlich waren die Leute weniger mürrisch, konstatiert er, was auch daran lag, dass die Gewohnheiten nicht mehr das Leben bestimmten, man sich lebendiger fühlte. „Überall wehte ein freiheitlicher Wind.“
Als die Deutschen Frankreich besetzen, gründet und engagiert er sich in einer Widerstandsbewegung von Jugendlichen, den „Volontaires de la Liberté“. Diese tut sich mit einer anderen Gruppe zusammen, der „Défense de la France“. Zusammen bringen sie eine Untergrundzeitung heraus. Er wird verraten, kommt nach Buchenwald.
Eine ausserordentlich berührende und wunderbar ansteckende Liebeserklärung ans Leben. Grossartig! Ein echter Glücksfall.
Jacques Lusseyran
Das wiedergefundene Licht
Klett-Cotta, Stuttgart 2024