Mittwoch, 16. Oktober 2024

Mein weiser Narr

Im Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss, um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.

Im Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr" Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt, die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt: "... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst ... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist alles."

Das Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte ...".
Schon mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos), das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich ist.

"Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "... mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all' dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut."
Ich finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle.

Akzeptieren ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien, die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst. Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.

Was es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?" anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert, als jede andere, die ich kenne."

Übrigens: "Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago Verlag erhältlich.

Santiago Verlag
Joachim Duderstadt e.K.
Asperheide 88
D-47574 Goch
http://santiagoverlag.de

Sonntag, 13. Oktober 2024

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Das Licht der letzten Tage

Alexander Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Forschungsinstitut für theoretische Psychologie und personalistische Studien in Budapest sowie das Viktor-Frankl-Institut in Wien. Er forscht über menschliche Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Dabei hat er auch festgestellt, dass die gesammelten Daten nicht nur ein unvollständiges Bild des Geschehens liefern, sondern für sich allein genommen auch zutiefst unbefriedigend sind. Die Geschichten, die ihm Angehörige Sterbender erzählen, sind weit aufschlussreicher. Und so lernt er, was jeder gute Forscher lernen muss und Viktor Frankl so formuliert hat: Er habe die Lehren seiner Lehrer (Sigmund Freud und Alfred Adler) vergessen und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer erkennen müssen.

Der Autor hat Fragebogen erstellt, diese ausgewertet, Forschungsergebnisse von Kollegen studiert, vor allem jedoch hat er sich mit den Berichten von Angehörigen Sterbender auseinandergesetzt. Kurz und gut: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Dabei ist ihm aufgegangen, "dass wir unsere gewohnten Anschauungen des unter allen Umständen und Bedingungen von intakter Hirnfunktion und -tätigkeit abhängigen Ichs infrage stellen müssen, sofern unsere vorläufigen Ergebnisse und Analysen halten." Vorsichtiger kann man sich kaum ausdrücken.

Der Untertitel, Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens, fasst zusammen. wovon dieses Buch handelt. Die Berichte von Familienmitgliedern darüber, was geschah, als die Patienten im Sterben lagen, sind faszinierend. So erfährt man etwa, dass Menschen, die an fortgeschrittener Altersdemenz leiden, unmittelbar vor dem Tod Momente geistiger Klarheit erlebten. "In gewisser Weise scheinen solche Fälle also fast allem zu widersprechen, was wir über die Abhängigkeit des Ichs bzw. der Geistes von intakten Hirnfunktionen zu wissen glauben: Sie scheinen die materialistische Arbeitshypothese grundlegend in Frage zu stellen."

Das Phänomen der terminalen Luzidität lässt sich weder medizinisch noch wissenschaftlich  erklären. Nur eben: Es existiert. es kommt zwar nicht besonders oft vor (soweit man das beobachten kann), doch es kommt vor. Was den Schluss nahelegt, dass unsere Erklärungsmodelle der Revision bedürfen. Und dies stösst natürlich auf Widerstand, denn von etwas abzulassen, das sich als höchst tauglich erwiesen hat, ist dem Menschen nicht wirklich gegeben.

Viktor Frankl und der australische Neurophysiologe John C. Eccles, der zu den Pionieren der Hirnforschung gehört, glauben "an das unzerstörbare Wesen der 'inneren' Person jedes vordergründig auch noch so schwer eingeschränkten Patienten als humane Tatsache und als moralische Leitlinie medizinischen und therapeutischen Handelns." Ein sinnvoller und pragmatischer Ansatz, doch letztlich eben ein Glaube, "der sich einer weiteren Überprüfung zu entziehen scheint."

Was mich besonders für dieses Buch einnimmt, ist das Grundsätzliche, das es anspricht. So stellt der Autor etwa fest, dass wir heutzutage weit seltener über Traurigkeit reden als die Generation vor uns. "Stattdessen sprechen wir von Depression." Anders gesagt: Wir glauben mittels "neutraler" Wortwahl die Welt verstehen zu können, sind dermassen materialistisch orientiert, dass wir das Unerklärliche, das so recht eigentlich magisch ist, nicht mehr sehen können.

So meint der estnisch-russische Philosoph Valentin Tomberg: "Der Materialismus tut in Bezug auf die Welt etwas, was in Bezug auf ein Kunstwerk absurd wäre, nämlich es anhand der qualitativen   und quantitativen  Eigenschaften der Materialien zu erklären, aus denen es besteht, und nicht anhand des Stils, des Bedeutungszusammenhangs und der Intention, dies aus dem Kunstwerk spricht. Wäre es nicht absurd, zum Beispiel ein Gedicht von Victor Hugo verstehen zu wollen, indem man die Tinte, mit der es geschrieben wurde, und das Papier, auf dem es steht, chemisch analysiert oder indem man die Anzahl der Wörter und Buchstaben zählt?"

Alexander Batthyány ist es darum zu tun, die in Verruf geratene Hoffnung zu rehabilitieren, denn er versteht die Hoffnung als uns anvertraut. Zudem glaubt er, "dass Hoffnung und unsere Ideale nicht aus einem Mangel heraus entstehen, sondern grundlegend im Menschen angelegt sind: Sie sind unser grösstes Gut. Der wirkliche Mangel zeigt sich vielmehr in der Abwendung von Hoffnung und Sinn – es wäre die Abkehr von einem wesentlichen Merkmal unseres Selbst- und Weiterlebens."

Letztlich geht es in diesem Buch um die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende sein wird. Alexander Batthyány glaubt das nicht und sieht seine Hoffnung auf ein solides Fundament gegründet, das er in diesem Werk vorlegt. Treffender als John C. Eccles kann man es meines Erachtens nicht sagen: "Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass unserer Existenz ein Geheimnis innewohnt, das jede biologische oder materialistische Logik übersteigt."

Alexander Batthyány
Das Licht der letzten Tage
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
O.W. Barth, München 2024

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Moments in time



Bad Ragaz, 19 September 2024

Pictures, says Blazenka, who took these pics,
are defined by their background. Rarely have I seen
this more convincingly demonstrated than on these photos.
that show me nine days short of my 71 birthday.

Mittwoch, 25. September 2024

Tennis Lessons

I was beginning to learn what all good pros and students of tennis must learn: 
that images are better than words, showing better than telling, too much instruction worse than none, and that conscious trying often produces negative results.
 
W. Timothy Gallwey: The Inner Game of Tennis

Sonntag, 22. September 2024

Das Leben ist der Ernstfall

Das Leben ist der Ernstfall, so der Titel des Buches, in dem Jürgen Leinemann seinen Umgang mit der Krebskrankheit schildert, von der er im Alter von 71 Jahren erfahren hatte. Jürgen Leinemann war Journalist, ein herausragender, der vor vielen Jahren seine Alkoholsucht erfolgreich zum Stillstand brachte und nicht wenige Politiker als Süchtige wahrnahm.

Sich einer Sucht zu stellen bedeutet letztlich, sich mit Grundfragen der menschlichen Existenz auseinanderzusetzen. Wie eine Sucht so ist auch der Krebs eine tödliche Krankheit. Jürgen Leinemann hat etwas Wesentliches verstanden, als er sich für Das Leben ist der Ernstfall als Buchtitel entschied. Denn dies wirklich zu begreifen bedeutet, anders als gewohnt zu leben. Wacher, verletzlicher, die Ungewissheit aushaltend.

Sargans, am 22. September 2024

Es gehört zu den eigenartigsten Dingen im Leben, dass wir, obwohl wir wissen (könnten), dass wir so recht eigentlich keine Zeit haben, wir nichtsdestotrotz glauben, wir hätten unendlich viel Zeit. Nur eben (und auch dies könnten wir wissen): Was gerade geschieht, kommt nicht zurück, ist bereits dann vorbei, wenn wir daran denken.

Doch das wollen wir nicht wahrhaben, hoffen gegen alle Vernunft, dass dem nicht so sei. Ich weiss nicht, ob man ohne Hoffnung sein könnte, doch ich weiss, dass mich die Hoffnung allzu oft davon abhält, das Leben als Ernstfall zu begreifen.

Mittwoch, 18. September 2024

Native American Ten Commandments

1.  The Earth is our Mother; care for Her
2.  Honor all your relations.
3.  Open your heart and soul to the Great Spirit.
4.  All life is sacred; treat all beings with respect.
5.  Take from the Earth what is needed and nothing more.
6.  Do what needs to be done for the good of all.
7.  Give constant thanks to the Great Spirit for each day.
8.  Speak the truth but only for the good in others.
9.  Follow the rhythms of Nature.
10. Enjoy life's journey; but leave no tracks.