Mittwoch, 7. Mai 2025

Seelenpfade

"Seelenpfade, das sind Wege, auf denen wir gehen und uns dabei ganz im Einklang mit uns selbst fühlen, auf denen Körper und Geist zu einem harmonischen Rhythmus finden, der uns vorwärts trägt." Zugegeben, ich lese diesen Satz mit gemischten Gefühlen, glaube nicht, dass mich im Einklang mit mir selber fühlen von einem bestimmten Weg oder Pfad abhängt, doch ebenso gilt: Es gibt eindeutig Gegenden, die meiner Seele zuträglicher sind als andere. Der Untertitel "Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden" ist jedoch gar nichts für mich – ich habe mich nie verloren, habe nur ganz verschiedene Variationen meines Ichs erlebt.

Die befürchtete Esoterik bleibt dann Gott sei Dank aus. Bereits auf den ersten Seiten stosse ich auf so schöne Formulierungen wie "Ruhe in der Bewegung" und so erhellende Sätze wie "Das befreit uns von einer der schlimmsten Geisseln unserer Epoche: dem dauernden Sich-entscheiden-Müssen." Und: "Wandern schafft Zufälle. Wir begegnen am Weg, wem wir eben begegnen. Was wir daraus machen, bleibt uns überlassen."

Sebastian Schoepp war lange Jahre bei der Süddeutschen als aussenpolitischer Redakteur für Spanien und Lateinamerika zuständig. Sein damaliger Alltag war die gängige Massenexistenz, von der erstaunlich viele glauben, sie sei persönlich und individuell. Als erdrückende Hierarchien, Arbeitsstress und gehetzte Daueraufgeregtheit charakterisiert er sie. Als er sich zusammen mit einem Freund zu Fuss von Darmstadt nach Heidelberg aufmacht, "fühle ich eine vergessene Entdeckerfreude in mir erwachen, ein ganz ähnliches Gefühl wie damals, als ich das erste Mal nach Buenos Aires flog und der schachbrettartige Grundriss der Stadt unter mir auftauchte wie eine Verheissung. Nun eben Frankfurt. Na und?"

Ich kann mich bestens identifizieren mit diesen Gefühlen, denn ich habe selber auch viel Zeit fern meines Schweizer Herkunftslands verbracht, und erst im Alter entdeckt, was stets vor meiner Nase lag. Vielleicht ist dieses Nicht-Sehen-Können dessen, was nahe liegt, ja auch eine Frage des Alters. Allerdings im Verbund mit der Neugier, die ich für ein Charaktermerkmal halte.

Seelenpfade erzählt von Sebastian Schoepps Umgang mit dem Leben. Der Wettbewerbsgedanke, dem sich die Mehrheit völlig hirnlos verschrieben hat, nervt ihn nicht nur, er will davon weg, denn sich ihm zu unterwerfen, macht ihn krank. So recht eigentlich macht der Wettbewerb (bei dem es ums Gewinnen und nicht etwa ums Mitmachen geht, wie uns die Schule belügt) sehr viele krank – dass wir in einer rundum kranken Welt leben, ist genauso offensichtlich, wie dass die meisten davon nichts wissen wollen.

Er sucht einen Gegenpol zum Leistungscredo der Arbeitswelt, macht diverse Abstecher. "Ich kannte Santa Cruz de la Sierra, Querétaro, Puerto Madryn, Cartagena de Indias, Valparaíso. Aber Tuttlingen? Bingen? Weinheim? Gütersloh? Miltenberg? Zittau? Detmold? Bad Bergzabern? Keine Ahnung. Inzwischen bin ich dort überall gewesen, und zwar zu Fuss."

Mittlerweile kommt ihm Deutschland wie "ein einziger grosser Geheimtipp" vor, beim Wandern erlebt er ein Gefühl von Freiheit und erfährt Welten, die sich nicht nur in verschiedenen Landschaften und lokalen Besonderheiten, sondern auch in den verschiedenen Dialekten ausdrücken. "In meiner Jugend stand 'Heimat' für Enge und Spiessigkeit, heute ist allenthalben eine Sehnsucht nach ihr zu entdecken, eine mögliche Folge des modernen Zwangs zur Mobilität." Auch wenn mir die Sehnsucht zur Heimat (ich weiss bis heute nicht recht, was Heimat eigentlich ist) abgeht, das Gefühl von Enge und Spiessigkeit in der Jugend kenne ich auch. Zudem scheint mir der Zwang zur Mobilität Hand in Hand zu gehen mit der Globalisierung, die zu einer einschläfernden Gleichförmigkeit geführt hat.

Seelenpfade ist informativ und kurzweilig (so erfährt man unter anderem, dass Breschnew, dem man einen Mercedes als Gastgeschenk{!}überlassen hatte, diesen in einer Kurve in den Graben fuhr), gemahnt gelegentlich auch eine aufschlussreiche Geschichtsstunde über die jüngere Vergangenheit, doch in der Hauptsache ist es eine reflektierte, praktisch-pragmatische und wunderbar anregende Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben soll.

Als einer, der viel seiner Lebenszeit ausserhalb von Deutschland verbracht hat, ist er sich bewusst, dass Aufenthalte in fernen Ländern ja oft auch der Versuch sind, ein anderer zu werden. Es ist ihm nicht gelungen, im Kern ist er der geblieben, der er immer gewesen ist. Ich teile diese Erfahrung, habe in meinen Jahren fern der Schweiz vor allem herausgefunden, wie schweizerisch ich bin. Und doch hat sich etwas geändert, schliesslich ist man anders in und auf der Welt, wenn sich der eigene Horizont erweitert hat, wozu auch Kopfreisen beitragen, so man sie denn wahrnimmt.

Es gibt Sätze in diesem Buch, die haben mich richtiggehend erwischt. Zu diesen gehört: "Stimmiges aber scheint uns innerlich zu verstören." Zu lernen, dass Kinder, so Bruce Chatwin, nicht still liegen können und herumgetragen werden wollen, und dass moderne Nomaden, von den Roma bis zu den Beduinen, verfolgt werden, weil sie die stabile Ordnung bedrohen, waren echte Augenöffner. "Der trotzige Rat der unruhigen Olga Tokarczuk: 'Beweg dich, beweg dich. Gesegnet sei, wer geht.'"

Es versteht sich: Es gibt ganz unterschiedliche Arten des Gehens. Da sind zum Beispiel die, die das Gehen als Leistungssport betreiben, wie die junge Mexikanerin neben mir auf dem Flug von Bogota nach La Paz, die strahlt, als ich ihr sage, für mich sehe das nach Tanzen aus. Mir selber steht die langsame Gangart näher, die Sebastian Schoepp als das "toskanische Einen-Schritt-vor-den-anderen-Setzen" bezeichnet. Eine bessere Lebensphilosophie kenne ich nicht.

Neben dem Autor kommen auch ganz viele andere Wanderer zu Wort, berühmte und weniger berühmte. Besonders angesprochent haben mich die Gedanken von Sabrina Radeck, mit denen ich mich bestens identifizieren kann. Sie beginnen so: "Ich mache mich merkwürdigerweise nie auf den Weg, um die Natur zu geniessen. Ich mache mich eher auf den Weg, um mich in der Natur oder auf dem Weg selbst zu erfahren ...".

.Seelenpfade schildert höchst anschaulich eine Entdeckungsreise in ein Deutschland, das einem gelegentlich vorkommt wie aus längst vergangener Zeit, was natürlich auch damit zu tun hat, dass die meisten die Welt nur noch aus den Medien kennen. Dabei erfährt Sebastian Schoepp auch sich selber anders bzw. neu, entdeckt an sich Seiten, gegen die sich sein Über-Ich zwar nach wie vor wehrt, die ihm aber eben auch die Möglichkeit eröffnet, ziemlich gelassen sich selber zu sein.

Fazit: Lehrreich, inspirierend, hilfreich – und oft zum Schmunzeln einladend.

Sebastian Schoepp
Seelenpfade
Warum ich durch Deutschland wandere, um zu mir selbst zu finden
Westend Verlag, Neu-Isenburg 2025

Sonntag, 4. Mai 2025

Emotionen & Kohlensäure

 "Wenn Jungs schon in der Grundschule gesagt wird", so die Spiegel-Autorin Tara-Louise Wittwer, "dass sie nicht weinen dürfen, weil starke Jungs eben nicht weinen, stauen sich die Emotionen oft jahrzehntelang an und explodieren dann. Ein bisschen so, wie bei einer Flasche Mineralwasser, extra spritzig, mit besonders viel Kohlensäure. Wenn man die ganz stark schüttelt und öffnet, weiss wirklich jeder was passiert." 

Und jetzt weiss auch wirklich jeder, dass Frau Wittwer nicht den leisesten Schimmer von Emotionen hat (Emotionen, die sich jahrzehntelang stauen? Wo genau? Gibt es da eine spezielle Ecke im Unbewussten?), sich jedoch mit Kohlensäure auskennt.

Mittwoch, 30. April 2025

On Gratitude

 "To be grateful for the good things that happen in our lives is easy, but to be grateful for all of our lives - the good as well as the bad, the moments of joy as well as the moments of sorrow, the successes as well as the failures, the rewards as well as the rejections - that requires hard spiritual work. Still we are only truly grateful people when we say thank you to all that has brought us to the present moment. As long as we keep dividing our lives between events and people we would like to remember and those we would rather forget, we cannot claim the fullness of our beings as a gift of God to be grateful for. Let us not be afraid to look at everything that has brought us to where we are now and trust that we will soon see in it the guiding hand of a loving God."

Henri Nouwen

Sonntag, 27. April 2025

Wieder werden

Wir rennen durchs Leben, unser antizipatorisch angelegtes Hirn treibt uns voran. Entschleunigen ist uns fremd, es sei denn, wir werden dazu gezwungen. Die Ärztin Magdalena Gössling wurde dazu gezwungen, durch einen Schlaganfall im Alter von 32, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Sie muss sich (neben vielem anderen) auch daran gewöhnen, sehr langsam zu schreiben, was zur Folge hat: "Ich lerne, genauer hinzuschauen."

Detailliert beschreibt sie, wie sie ihren Schlaganfall erlebt, ohne anfänglich zu begreifen, dass es einer ist. "Mein Gehirn war längst ein anderes, es hatte mich verändert, und nichts war mehr wie gewohnt." Sie ist nicht mehr Ärztin, sondern Patientin; ihr Körper gehorcht ihren Gedanken nicht mehr.

Sie wird auf die Charité verlegt, kriegt Besuch von ihrem Partner, einem Neurologen, der Mutter (Krankenpflegerin von Beruf), mit der sie sich auch über die logopädische und ergotherapeutische Behandlung austauschen kann. Selber Patientin sein, lässt sie auch über ihr eigenes Verhalten als Ärztin reflektieren. Sensibel registriert sie, wie wichtig ihr echte menschliche Anteilnahme ist. Und auch ihre Wertvorstellungen erfahren eine Neuausrichtung. "Den Selbstwert nicht an Schnelligkeit und Leistung zu binden, ist für mich immer noch ein Lernprozess. Was es bedeutet, in einer auf Leistung, Umsatz und Wachstum getrimmten Welt schwer zu erkranken, das konnte ich vor meinem Schlaganfall nicht ermessen."

Sie kriegt alles mit, ist geistig da, doch sprechen kann sie nicht, sich mit Worten zu verständigen geht nicht. Eine Freundin besucht sie, der Bruder, die Schwester kommen vorbei, der Vater liest ihr vor. Selber lesen ermüdet sie und so schaut sie fern, bleibt bei Germany's Top Model hängen. "Es ist mir peinlich, dass ich solche Shows gucke. Ich weiss, dass sie hirnlos sind. Und ich will unbedingt zeigen, dass ich Hirn habe." Ihren Humor hat sie nicht verloren! Er zeigt sich auch in der Schilderung der grossen Visite nach der gelungenen Operation, bei der die Ärzte vor allem sich selber beglückwünschen.

"Ich habe überlebt. Jetzt kommt die Fleissarbeit. Ich muss Fuss fassen, weiter kämpfen", notiert sie. Bewegungs- und Sprachübungen, es ist anstrengend. Als sie das Schreiben übt, bemerkt sie, dass schon ein einzelner Buchstabe den Sinn verschiebt. "Ich schreibe Freude statt Freunde, Schmerz statt Scherz, Wut statt Mut." Was auch immer der Grund dafür sein mag (wenn es denn überhaupt einen Grund dafür gibt), dass Buchstaben Gefühle ausdrücken können, ist ein Wunder, das sich auch darin zeigt, dass unsere Erklärungen dafür recht dürftig wirken.

Dann kommt die Reha, Grad der Behinderung: fünfzig. Die Tage sind durchgetaktet; sie ist ehrgeizig, macht Fortschritte, und verzweifelt dennoch fast, denn sie vergleicht sich mit dem Vorher und dem Jetzt, doch der Schlaganfall hat sie im Kern erschüttert. "Motorisches Geschick, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität – alles ist vernichtend getroffen." Hält man sich die Schwierigkeiten vor Augen, welches das  Lesen auf ein mühsames Entziffern von Wörtern reduziert, lässt einen mehr als nur staunen, dass sie dieses Buch schreiben konnte.

Ihre Tochter kommt zur Welt, kurze Zeit später erleidet sie selber einen epileptischen Anfall. Magdalena Gössling bleibt wirklich nichts erspart, denkt es so in mir. Gleichzeitig beeindruckt mich ihr Lebenswille, ihre Kämpfernatur, ihre pragmatische Art mit dem, was ihr zustösst, umzugehen. Sie will wieder in ihren Beruf, die Handchirurgie, zurück – ermutigt wird sie nicht. Nur schon das hätte wohl viele in die Verzweiflung getrieben.

"Suche nach einem neuen Ich" ist ein Kapitel überschrieben. Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Doch sie weiss auch, dass sie loslassen muss. Dieses Wissen hilft nicht, es steht ihr im Weg. Ihre Widerstände sind mannigfaltig, ihre Aufrichtigkeit eindrücklich. Auch als sie dauerhafte Berufsunfähigkeit attestiert bekommt, gibt sie nicht auf. "Ich habe Launen, Gefühlsausbrüche, vor denen ich mich ekle und die mich beschämen." Als sie sich nach Monaten bewusst anderen Dingen zuwendet, beginnt sie, ihr Leben neu zu gestalten. Es ist ihre Auseinandersetzung mit Sprache, die ihr allmählich die Welt des Schreibens eröffnet. Aus der Handchirurgin wird eine Autorin.

"Das Leben ändert sich in einem Augenblick. In einem alltäglichen Augenblick." Dieses Zitat von Joan Didion, das treffender kaum illustrieren könnte, was wohl die Wenigsten auf dem Radar haben, hat Magdalena Gössling ihrem Erlebnisbericht vorangestellt, der dokumentiert, dass und wie wir unserem Schicksal ausgeliefert sind. Sie lernt zu akzeptieren, was sie nicht ändern kann, und bemüht sich, zu ändern, was sie zu ändern vermag. Sie lernt ihre Energie auf ein neues Leben zu richten. So recht eigentlich hat sie ihrem ersten Leben ein zweites hinzugefügt; ein Leben, das sie erst zu entdecken begann, als sie bereit dazu war, ihr erstes hinter sich zu lassen.

Wieder werden ist weit mehr als die berührende Schicksalsgeschichte einer Kämpferin, es ist auch eine selbstkritische und sensible Meditation darüber, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Und nichts garantiert ist. Wer weiss schon, was noch alles kommen wird?

Magdalena Gössling
Wieder werden
Eine Geschichte über Verlust und Erneuerung
Rowohlt Polaris, Hamburg 2025

Mittwoch, 23. April 2025

On Freedom

 When a cow decides to stop nursing her calf, she isn't rejecting it. She knows it's time for the calf to be on its own. Although the calf might feel rejected and puzzled at first, it soon adapts to its new independence and freedom.

When we feel rejected, it's useful to remember that whatever has caused us to feel this way might have nothing to do with us. It might be a reflection of what's happening with someone else, or just the end of a natural stage in life, as with the calf.

When we understand that others' actions toward us come from their own feelings, and that we don't cause their feelings any more than they control ours, we can free ourselves from a little bit of fear and self-hate. We can see what seems to be rejection as an open door, with our freedom on the other side.

Sonntag, 20. April 2025

Keine Zeit verlieren

Die 2018 verstorbene Science-Fiction Autorin Ursula K. Le Guin (geboren 1929) erhielt für diese Essaysammlung posthum den PEN/Diamonstein-Spielvogel Award for the Art of the Essay. Der erste dieser Essays handelt von einem Fragebogen der Universität Harvard, in dem sie unter anderem gefragt wird, ob sie ihre geheimen Wünsche auslebe (sie hat keine), und womit sie ihre Freizeit verbringe (die Auflistung beginnt mit Golf). "Ich bin ein freier Mensch, aber freie Zeit habe ich nicht. Meine Zeit ist komplett aufgefüllt mit  ...", notiert die Achtzigjährige; ihre Tätigkeiten füllen eine halbe Buchseite.

Seit sie alt sei, halte sie nichts mehr von dem Sprichwort "Man ist so jung, wie man sich fühlt". Auch mit dem Spruch "Das Alter ist nichts für Weicheier" kann sie nichts anfangen; sie findet ihn fürchterlich. Sie hat nichts gegen Sprüche, doch sie zieht ihren eigenen vor. "Das Alter ist nichts für die Jungen."

Diese Essays sind ein Genuss. Und sie sind hilfreich. Was daran liegt, dass hier eine no-nonsense-Frau schreibt, die klar zu denken versteht. Voraussetzung dafür ist ein nüchterner Blick auf die Dinge, so wie sie sind. "Die Amerikaner glauben fest ans positive Denken. Positives Denken ist grossartig. Es funktioniert am besten, wenn es auf einer realistischen Einschätzung und auf der Akzeptanz der tatsächlichen Lage basiert. Positives Denken auf der Grundlage von Verleugnung ist wohl eher weniger grossartig."

Treffend und erfrischend auch Ursula K. Le Guins Ausführungen zur Kunst. "Kunst machen heisst nicht, sie zu erklären. Kunst ist, was ein Künstler schafft – nicht, was ein Künstler dazu erklärt." Kunsthistoriker, Kuratorinnen und alle anderen, die vom Erklären leben, werden das womöglich anders sehen, weshalb denn auch die Autorin lustvoll nachdoppelt. "Für mich ist die Aufgabe einer Töpferin, einen guten Topf herzustellen, nicht darüber Auskunft zu geben, wie und wo und warum sie ihn angefertigt hat und wofür er aus ihrer Sicht verwendet werden soll und welche anderen Töpfe ihn beeinflusst haben und was der Topf bedeutet und wie man den Topf erfahren soll." Herrlich!

Auch über die Vorstellung des Grossen Amerikanischen Romans lässt sie sich aus, und vermisst auf der gängigen Liste neben Onkel Toms Hütte auch Früchte des Zorns, von dessen Autor, John Steinbeck, ich gerade vor ein paar Wochen The Pearl gelesen und in bester Erinnerung habe. Schon eigenartig, wie Dinge zusammenzuhängen scheinen, war doch The Pearl mein erstes Steinbeck-Buch. Glaubte ich. Ein Blick ins Buchregal belehrte mich dann eines besseren, denn da standen zwei weitere Steinbeck-Bücher, eines ganz offensichtlich gelesen, das andere nicht. Keine Zeit verlieren bewirkt nun, dass ich mir die beiden, die ich überhaupt nicht auf dem Radar hatte, jetzt vornehme.

Bücher können auch zur Bewusstseinsbildung beitragen und Keine Zeit verlieren tut das ganz unbedingt. So macht mich Ursula K. Le Guin auch auf Homer aufmerksam. Ihre Version der Illias sowie der Odyssee sprechen mich weit mehr an als die Originale. Zustimmend zitiert sie den in London lebenden, pakistanischen Autor Moshin Hamid: "Wie seltsam wäre es, Homers Illias oder Rumis Masnavi als "die Grosse Dichtung aus dem östlichen Mittelmeerraum" zu bezeichnen. Soviel zum Grossen Amerikanischen Roman.

Höchst aufschlussreich auch ihre Ausführungen zu Fantasy, die nicht etwa sagt: Alles ist möglich, sondern: Es muss nicht so sein, wie es ist. Und das meint: Die Gesetze der Kausalität gelten auch in der Fantasy, sonst wäre der Leser oder Hörer der Geschichte orientierungslos. "Fantasy hat nichts an sich, vor dem man sich fürchten muss, es sei denn, man hat Angst vor der Freiheit, die in der Ungewissheit liegt." Man sollte diesen Satz nicht überlesen, man sollte bei ihm verweilen, und bedenken, was er alles impliziert, denn Freiheit und Ungewissheit gehören zusammen.

Ursula K. Le Guin zu lesen, ist überaus bereichernd, denn diese Frau ist nicht nur eine eigenständige, sondern auch eine originelle Denkerin mit einem überaus breiten Horizont, Vor allem regt sie an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Kants Aufforderung, man soll den Mut haben, sich seines eigenen Verstandes bedienen, wird in diesem Buch auf eine Art und Weise praktiziert, dass es eine wahre Freude ist.

Keine Zeit verlieren ist weit mehr als ein Buch übers Alter, es ist eine gescheite und praktische Lebensanleitung einer hoch-reflektierten Frau mit viel common sense (der so recht eigentlich alles andere als common ist) und mit viel Humor.

Fazit: Erhellend, lustig, philosophisch und überaus nützlich!

Ursula K. Le Guin
Keine Zeit verlieren
Über Alter, Kunst, Kultur und Katzen
Golkonda Verlag, München 2025

Mittwoch, 16. April 2025

Aufbruch

.Es sei gleich vorweggenommen: Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt liest sich mit Genuss und Gewinn. Das liegt daran, dass der routinierte Sachbuchautor Stefan Klein viele aufschlussreiche Forschungsergebnisse zusammengetragen hat und diese anregend zu präsentieren weiss. Dabei entbehrt es nicht der Ironie, dass er sehr konventionell vorgeht, also an die Kraft des plausiblen Arguments glaubt. So verständlich dies auch ist: Es ist unser Festhalten am Gewohnten bzw. an unserer Art zu denken, was der Veränderung entgegensteht. Viele Veränderungen geschehen nämlich einfach so, manchmal auch gegen unseren Willen, und nicht wenige überraschen uns.

Der Mensch will sich nicht ändern, ja mehr, er lebt in Illusionen. Das liegt an unserem Hirn. "Das Gehirn ist eine Illusionsmaschine, und die voraussagende Codierung ist die Mutter aller Illusionen." Mit anderen Worten: Unser Verstand geht nicht von Fakten, sondern von Prognosen aus. Es sind unsere Erwartungshaltungen, die unser Verhältnis zur Welt bestimmen. Und es ist unser Festhalten an dem, was wir kennen. Davon handelt der grösste (und sehr überzeugende) Teil dieses Buches, das unter anderem auch klar macht, dass wir bei weitem nicht so rational unterwegs sind, wie wir das gerne annehmen. Nun irrt der Mensch bekanntlich, solang er strebt, und ganz besonders in Sachen Willen und Einsichten. Letztere, sofern sie unser Herz nicht erreichen bzw. nicht ins Handeln überführt werden, bleiben so recht eigentlich toter Buchstabe.

Als einer, der selber destruktive Gewohnheiten bzw. Süchte zum Stillstand bringen konnte (seit 35 Jahren ohne Alkohol, seit knapp 29 Jahren ohne Nikotin) bin ich mit der Tatsache, dass sich der Mensch nicht ändern will, bestens vertraut (Wie geht das eigentlich, das Leben?). Und staune immer wieder, wie viele Menschen das überhaupt nicht so sehen. Nicht zuletzt deswegen finde ich das vorliegende Buch ausgesprochen hilfreich, denn es macht an ganz vielen Beispielen deutlich, dass unser grösstes Talent im Selbstbetrug besteht.

"Auch muss man bedenken, dass kein Vorhaben schwieriger in der Ausführung, unsicherer hinsichtlich seines Erfolges und gefährlicher bei seiner Verwirklichung ist, als eine neue Ordnung einzuführen; denn wer Neuerungen einführen will, hat alle zu Feinden, die aus der alten Ordnung Nutzen ziehen, und hat nur lasche Verteidiger an all denen, die von der neuen Ordnung Vorteile hätten", wird Machiavelli zitiert. Stefan Klein illustriert dies anhand der Coca-Cola-Company, die 1985 versuchte, das alte Coca-Cola durch ein neues, das bei Blindtests obenaus schwang, zu ersetzen – und spektakulär scheiterte.

Zu dem für mich Verblüffendsten gehören die Untersuchungen des Wirtschaftsnobelpreisträgers Richard Thaler, der seine Studierenden wählen liess, "ob sie für eine kleine Aufgabe lieber eine Stange Toblerone oder einen Kaffeebecher als Belohnung wollten. Danach erhielten die Teilnehmenden zufällig eines der beiden Objekte und die Möglichkeit, untereinander zu tauschen. Doch kaum jemand nutzte diese Option. Wer den Kaffeebecher hatte, behielt ihn, und wer Schokolade bekommen hatte, obwohl er den Becher gewählt hatte, behielt diese ebenfalls." Was lehrt uns das? Was man einmal hat, gibt man nicht so leicht wieder her. Das ist nicht nur bei Dingen so, das ist auch bei Meinungen so. 

Aufbruch. Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt macht einen auf ganz Unterschiedliches aufmerksam. So lerne ich etwa vom Physiker Max Planck: "Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben." Zu Recht folgert Stefan Klein, dass dieses Prinzip sich nicht allein auf die Wissenschaft bezieht. "Je jünger eine Person, umso eher passt sie sich neuen Tatsachen an."

Am Beispiel des Arztes Ignaz Semmelweis, der das Kindbettfieber zum Verschwinden brachte, indem er seine Ärzte anhielt, sich vor jeder Untersuchung die Hände mit Chlorlösung zu waschen, legt Stefan Klein eindrücklich dar, dass Wissen nicht notwendigerweise Macht bedeutet, denn Semmelweis wurde nicht gelobt, sondern angefeindet. Wie so recht eigentlich immer: Priorität hat die Stabilität des herrschenden Systems. So verständlich das ist (der Mensch ist verloren im Universum und braucht Halt), so lebensfeindlich wirkt es sich aus, denn die Unsicherheit gehört zum Leben, sie kann nicht ausgerottet werden. Wir versuchen es trotzdem ...

Doch Veränderungen, die gibt es. Ein Blick in die Geschichte genügt. Damit Veränderungen möglich werden, müssen wir Erfahrungen machen. Und dies ist in der heutigen Zeit kein geringes Problem, da wir  uns immer mehr digital informieren, doch die Medien uns keine Erfahrung vermitteln. 

Stefan Klein berichtet auch von Möglichkeiten, den Handykonsum mittels einer App, die den Start von WhatsApp und Co. verzögert, einzudämmen. Und von der Hoffnung und den Erfolgen der kleinen Schritte; zudem argumentiert er für eine Kultur der Veränderung, die auf Motivation und Information setzt. Den Analyse-Teil fand ich entschieden motivierender, doch dieses Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, das dem letzten Kapitel vorangestellt ist, zeigt die Richtung sehr schön an. "Ein Schiff zu erschaffen heisst nicht, Leinen zu weben, Nägel zu schmieden oder die Sterne zu lesen, sondern den Menschen die Sehnsucht nach dem Meer vermitteln."

"Sein Leben zu ändern heisst daher, neue Gewohnheiten anzunehmen." Schon, denkt es dann so in uns, doch das ist schwierig. Ist es nicht, im Gegenteil, es ist einfach, man muss es nur tun, meint der Autor. Und genauso isses! Jedenfalls war es bei mir so. Weshalb, weiss ich nicht wirklich  (meine Rationalisierungen haben sich im Laufe der Jahre gewandelt). Heutzutage scheint mir, ich hatte schlicht genug, wehrte mich nicht mehr gegen die Veränderung, war bereit, das Alte zu lassen. Wie sagte doch Horatio in Hamlet: "The readiness is all."

Stefan Klein
Aufbruch
Warum Veränderung so schwer fällt und wie sie gelingt
S. Fischer, Frankfurt am Main 2025