Dieser Roman hat offenbar ein Anliegen, denkt es so in mir, als ich lese: "In Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben sind sämtliche Ereignisse und handelnden Personen frei erfunden. Die medizinischen und juristischen Aspekte sind faktentreu recherchiert und lassen sich anhand des Quellenverzeichnisses nachvollziehen." Ein Blick ins Quellenverzeichnis macht dann klar: Es geht um Sterbehilfe.
Der Roman als Plattform für eine Auseinandersetzung, für ein Argument? Nun ja, das ist er meistens, nur wird das selten auch ausgewiesen und so konkret benannt wie im vorliegenden Fall. Doch dieser Roman ist viel mehr: Eine Konfrontation mit existenziellen Fragen, die praktisch-philosophisch angegangen werden.
Helena, angehende Ärztin, und Marlene, Journalismus und Pharmazie, lernen sich im Studentenheim kennen, werden beste Freundinnen, dann erkalten die Gefühle, doch sie bleiben in Kontakt. Das ist überaus ansprechend geschildert, in einfacher, klarer, unprätentiöser Sprache – man glaubt sich mit dabei, nimmt emotional Anteil. Ein Roman, der sich liest wie eine Geschichte aus dem richtigen Leben, und überdies höchst unterhaltsam ist, da auch der Humor (inklusive Selbstironie) nicht zu kurz kommt.
Erzählt wird die Geschichte chronologisch, erfreulicherweise ohne Rückblenden, und entwickelt einen Sog, der einen unmittelbar gefangen nimmt. Klar doch, ich rede von mir, halte mich jedoch nicht für eine Ausnahme. Emails wechseln sich ab mit Schilderungen des sich entwickelnden Geschehens. Dazu kommen unerwartete Wendungen sowie nützliche Aufklärung, die im vorliegenden Fall allerdings auch als Werbung für Psychologen durchgehen könnte. "In der menschlichen Psyche gibt es keine Monokausalitäten, sondern meist komplexe Prozesse, die nur durch kontinuierliche Bearbeitung lösbar sind."
Marlene erhält die Diagnose Brustkrebs, möchte Helena als Ihre Ärztin, was Helenas Mann, von Beruf Psychologe, ihr auszureden versucht. "... Leid kann nur lindern, wer selbst nicht mitleidet. Und du wirst leiden wie ein Hund." Mit dem zweiten hat er wohl recht, doch mit dem ersten liegt er für mein Dafürhalten falsch, nicht zuletzt, weil der Gedanke eindeutig was für sich hat und dann eben doch nicht. Die menschliche Seele ist entschieden komplexer als die Welt der Psychologie.
Marlenes Zwillingsschwester Antonia ist an ALS erkrankt, was mich auch an meinen Freund Armando erinnert, der dieser Krankheit erlag (Meine allererste Reportage, die jetzt 25 Jahre zurück liegt, handelt davon, und findet sich hier). Die Gefühle, die mit Diagnosen wie fortgeschrittener Krebs und ALS einhergehen, schildert die Autorin eindrücklich. Genauso wie Helenas Umgang damit. "Als Freundin schuldete ich Lene Offenheit, als Ärztin war ich nur verpflichtet, ihr nicht die Unwahrheit zu sagen."
Lene möchte, dass Helena ihr bei ihrem Suizid (sollte sie sich dafür entscheiden) hilft. Nur eben: assistierter Suizid ist in Deutschland strafbar. Womit wir bei einem Kernthema dieses Romans angelangt wären, bei dem auch deutlich wird, dass der Justiz viel zu viel Macht eingeräumt wird. Dass einem dem Tode nahen Patienten unnötiges Leiden erspart bleiben sollte, leuchtet ein, doch was wird dabei eigentlich den Ärzten und Ärztinnen zugemutet? Helenas Auseinandersetzung mit dem Thema ist sehr differenziert, lässt sich meines Erachtens jedoch nicht juristisch lösen. Kommentiert ihr wohlmeinender Mann: "Ich bestreite nicht, dass es empathische Personen geben mag, die es unbeschadet überstehen, jemanden auf Verlangen zu töten. Aber du gehörst ganz bestimmt nicht dazu." Gut möglich, dass er recht hat; andererseits ist irren nicht nur menschlich, sondern gehört (neben dem Selbstbetrug) zu unseren grössten Talenten.
Dann wird die Strafbarkeit des assistierten Suizids gerichtlich aufgehoben. Ausführlich wird die medizinische, juristische und menschliche Situation dargelegt. So informativ und aufschlussreich das auch ist, am meisten beeindruckt hat mich die Schilderung von Lenes Umgang mit ihrem Krebs, dieser Mischung von Hoffnung und Panik, Wissen und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Und wie sich die Angst mit der Zeit verändert. "Jetzt, da ich weiss, dass ich diesen Krebs nicht dauerhaft überleben werde, ist die Angst eher so, wie ich sie mir bei Astronauten vorstelle, deren Raumschiff irreparabel defekt ist. Sie schweben im All, können dessen gigantische Schönheit betrachten, sogar geniessen, noch geborgen im Schiffsinneren, wohl wissend, dass sie Mutter Erde nicht mehr erreichen können."
Doch bei diesem Gefühl bleibt es nicht, auch natürlich, weil es Gefühlen eigen ist, sich ständig zu ändern. Wie Lenes Ängste und Stimmungen sich wandeln, und was das mit ihrem Mann und ihrer Freundin Helena und deren Gatten macht, ist bestens nachvollziehbar. Und obwohl mir bewusst ist, dass es sich bei Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben um einen Roman handelt, hatte ich den Eindruck, ich lese über das wirkliche Leben.
Lou Bihl erzählt eine spannende, in der ärztlichen/medizinischen Realität angesiedelte Geschichte, die wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass man sich nicht allein in Spekulationen ergehen kann, sondern praktisch handeln muss. Und genau das macht diesen Roman zu etwas Unüblichem, ausgesprochen Erfreulichem und überaus Berührendem.
Fazit: Packende, bewegende und überaus hilfreiche Aufklärung.
Lou Bihl
Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben
Roman
Unken Verlag 2025