Mittwoch, 6. November 2024

Von der Hoffnung, meiner Feindin

 Ich habe nur einen Feind: die Hoffnung.

Ständig sagt sie mir, alles werde nicht nur gut, sondern noch besser werden; immerzu treibt sie mich an, nie lässt sie mich sein, wo und wie ich bin.

Was wäre der Mensch ohne Hoffnung? habe ich einmal gelesen. Nicht nur Hemingway hat sich dies gefragt, doch ihm, als Alkoholiker (wenn, was wir über ihn gelesen, der Wahrheit entspricht), war die Hoffnung wohl überlebensnotwendiger als anderen, die vielleicht etwas weniger leiden und deshalb dieser tröstenden Vorstellung, dass alles, in der Zukunft, der fernen, eigentlich immer nur besser werden kann, nicht so stark bedürfen.

Wer in der Gegenwart lebt, bedarf der Hoffnung nicht. Vorausgesetzt natürlich, er (oder sie – die künftig immer mit gemeint werden soll) lebt gerne in dieser Gegenwart. Ein solcher muss nicht vertröstet werden, ein solcher schätzt, was er hat.

***

Der Mensch ist grundsätzlich unzufrieden angelegt, und deswegen ein sehnsüchtiges Wesen. Um mit Wilhelm Busch zu reden: was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht. Und deshalb braucht er die Hoffnung, dass er eines (meist fernen) Tages (vielleicht aber auch erst im Himmel), haben wird, was er jetzt schon will (und dann möglicherweise nicht mehr haben möchte – doch das wäre eine andere Geschichte).

Ständig also hofft der Mensch auf bessere Zeiten. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als warten. Dem Spanisch sprechenden Latino ist das eh dasselbe, für ihn bedeuten sowohl hoffen als auch warten esperar, was uns zum Schluss zwingt, dass wenn der Latino hofft, er zur gleichen Zeit auch wartet, und wenn er wartet, er ganz offenbar sogleich hofft. So richtig unmittelbar eingeleuchtet hat mir das, als ich letzthin auf den Bus wartete und dabei hoffte, dass er auch käme.

Für die Latinos ist also der Fall gelöst: sie haben absolut Null-Chance, jemals in der Gegenwart leben zu können. Und scheinen auch gar kein Problem damit zu haben, man denke nur an ihr andauerndes mañana. Oder meint das vielleicht das Gegenteil? Dass also das Heute das Wichtige und alles andere bis morgen warten könne?

Wir andern aber, die wir so gewiss sind, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten (möglichst entspannt natürlich), wir haben ein Problem damit, dass wir, so sehr wir es auch wollen, es einfach nicht können.

Wo ein Wille, da kein Weg, sagt uns dazu der Psychologe von heute, und wir glauben zu ahnen, dass da was dran sein könnte, nur haben wir nicht den leisesten Schimmer, wie wir das jetzt praktisch umsetzen sollten. Im Gegensatz zum Psychologen – der fordert für solche Weisheiten Honorar.

Wir trotten also weiterhin ratlos durch die Gegend, wobei wir von Zeit zu Zeit auf Leute treffen, die behaupten, im Grunde sei alles ganz einfach, man müsse nur in der Gegenwart leben. Es sind dies in der Regel Menschen, die den Anblick in Blüte stehender Blumen unweigerlich mit Begeisterungsschreien kommentieren. Ich gestehe, mir ist ein solches Naturell nicht gegeben, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich wünschte, mir wäre ein solches mitgegeben worden. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: mir ist von den mir bekannten drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft – die Gegenwart am wenigsten lieb. Nicht dass ich das gut finde, doch es ist so.

In einer Kultur gross geworden, die dem Sollen, dem Müssen, eine Prominenz zuweist, die einen in Null-Komma-Nix die Flucht in den Buddhismus antreten lässt, reagiere ich auf Aufforderungen, die mit „Du musst nur“ anfangen, automatisch mit Verweigerung und fühle mich dann fast augenblicklich auf eine mir nicht so recht erklärliche Art schuldig.

Doch so eine Sollens-Kultur bringt es eben auch mit sich, dass man immer weiss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Und darauf hofft, wenn man denn das Seinige zu tun bereit ist, dass die Dinge eines Tages so sein könnten, wie sie eigentlich sein sollten.


Sisyphus scheint davon nicht sonderlich überzeugt gewesen zu sein. Der konzentrierte sich darauf, den Stein den Hügel hinauf zu rollen. Und tat das und nur das und sonst gar nichts. Camus soll gesagt haben, man müsse sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen. Obwohl mir der Gedanke sympathisch ist, habe ich mir bisher Fliessbandarbeiter nicht als fröhliche Menschen vorgestellt, aber ich bin ja auch kein anerkannter Philosoph.

Lasst alle Hoffnung fahren! hatte ich ja eigentlich immer als Drohung interpretiert. Wenn dem nun aber gar nicht so wäre, wenn das in Wirklichkeit eine Aufforderung wäre, sich der Realität, also dem, was ist, zu stellen? Und einfach zu tun, was zu tun ist, und sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen?

Ich weiss nicht so recht. Es klingt mir doch ein bisserl arg nach „glücklich, wer nicht denkt“, und dazu mag ich mich eigentlich nicht äussern, schon deshalb nicht, weil es, das weiss jeder, eindeutig was für sich hat, doch eben genauso eindeutig ziemlicher Humbug ist. Schliesslich ist einer, der denkt, deswegen nicht schon gleich unglücklich.

Und überhaupt, so sagt man, zeichne das Denken den Menschen doch aus.

***

Es gehe darum, den Wald voller Affen im Kopf zur Ruhe zu bringen, sagt der buddhistische Mönch im Hauptsitz des „World Fellowship of Buddhists“ in Bangkok. Wir sollten den Atem beobachten, ihm einfach folgen, konstatieren, was passiere. Wenn Gedanken uns ablenkten, sie weder verscheuchen, noch ihnen nachgeben, sondern sich sagen, aha, ein Gedanke, und dann wieder zum Atem zurückkehren.

Ein Mann (der sei früher Professor in Berkeley gewesen, raunt mir mein Nachbar zu) meldet sich: er habe das schon oft geübt, doch nach zwei, drei Minuten sei er regelmässig weg von seinem Atem und voll in Gedanken.
Der Mönch lacht. Das sei normal. Er solle einfach weiter üben.

Mir geht es so wie diesem Mann: ganz schnell bin ich wieder bei meinen Gedanken (und sie bei mir). Das ist vertrautes Territorium. Und überhaupt finde ich meinen Atem zu beobachten ganz und gar nicht attraktiv.

Wir üben jetzt eine halbe Stunde lang Meditation im Gehen, sagt der Mönch. Stehen Sie gerade, fassen Sie den Punkt am Ende der Halle, wo Sie hinwollen, ins Auge. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse: wie sie auf den Boden treffen, abrollen, sich heben.
Diesmal geht’s, diesmal spüre ich das Heben, Senken, Auftreffen, Abrollen der Füsse, die Vorwärtsbewegung des Körpers, und ohne dass mich Gedanken sofort wieder wegholen. Diesmal brauche ich nicht zu hoffen, diesmal bin ich ganz einfach – und tue, was ich tue.

Mittwoch, 30. Oktober 2024

It is by self-forgetting ... that one finds

"Lord make me a channel of Thy Peace, That where there is hatred ... I may bring love, That where there is wrong ... I may bring the spirit of forgiveness, That where there is discord ... I may bring harmony, That where there is error ... I may bring truth, That where there is doubt ... I may bring faith, That where there is despair ... I may bring hope, That where there are shadows ... I may bring light, That where there is sadness ... I may bring joy.

Lord, grant that I may seek rather to comfort ... than to be comforted, To understand ... .than to be understood, To love ... than to be loved.

For ... it is by self-forgetting ... that one finds, It is by forgiving ... that one is forgiven, It is by dying ... that one awakens to Eternal Life."

Saint Francis of Assisi

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Never enough

 One of the phenomena that doesn't cease to baffle me ist the desire to always want more, that nothing does seem to be enough, never. The point is: I simply do not get it. Differently put: I know it but knowledge or mental insight does not help for it is (go figure!) not enough. What is needed in order to understand is action, to act my way into a new way of thinking.

For instance, I cannot get enough of books that promise me a good time as well as insights. Despite what public relations departments of publishing companies and reviews in renowned media suggest. I'm regularly disappointed for most new releases rarely offer anything new. In fact, most of non-fiction works start with the ancient Greeks and pretend that, despite lots of evidence to the contrary, we can learn from the past.

Most recently, I started to leaf through unread books that sit quite comfortably on my shelves. And, to my surprise, I've discovered that I had missed out on works that did not only intellegently entertain me but also provided me with useful insights. It couldn't have been more obvious that I already had what I thought that I needed to have. 

How come then that I still couldn't control my compulsion for new books? Because my mind is wired in such a way that it always looks ahead. Well, can I not change that? Sure, by acting differently. For what I truly understand lies in my actions. How I really (albeit unconsciously) think is revealed by my actions.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Mein weiser Narr

Im Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss, um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.

Im Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr" Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt, die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt: "... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst ... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist alles."

Das Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend, weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte ...".
Schon mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken, dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos), das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich ist.

"Den Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann, dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "... mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all' dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen, die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren. Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen, dass das manchmal wehtut."
Ich finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht eigentlich für alle.

Akzeptieren ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien, die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst. Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.

Was es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?" anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert, als jede andere, die ich kenne."

Übrigens: "Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago Verlag erhältlich.

Santiago Verlag
Joachim Duderstadt e.K.
Asperheide 88
D-47574 Goch
http://santiagoverlag.de

Sonntag, 13. Oktober 2024

Das Jetzt ist nicht zu fassen

Unterwegs in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés, Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen, ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht, handeln die hier vorliegenden Texte.

Diese Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter, Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang, Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.

Unterwegssein ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine Gewohnheit zu denken.

*Das Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten, so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.


Hans Durrer
Das Jetzt ist nicht zu fasen
Notizen von Unterwegs
neobooks, Berlin 2024

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Das Licht der letzten Tage

Alexander Batthyány leitet das Viktor-Frankl-Forschungsinstitut für theoretische Psychologie und personalistische Studien in Budapest sowie das Viktor-Frankl-Institut in Wien. Er forscht über menschliche Erfahrungen an der Schwelle des Todes. Dabei hat er auch festgestellt, dass die gesammelten Daten nicht nur ein unvollständiges Bild des Geschehens liefern, sondern für sich allein genommen auch zutiefst unbefriedigend sind. Die Geschichten, die ihm Angehörige Sterbender erzählen, sind weit aufschlussreicher. Und so lernt er, was jeder gute Forscher lernen muss und Viktor Frankl so formuliert hat: Er habe die Lehren seiner Lehrer (Sigmund Freud und Alfred Adler) vergessen und stattdessen seine Patienten als seine Lehrer erkennen müssen.

Der Autor hat Fragebogen erstellt, diese ausgewertet, Forschungsergebnisse von Kollegen studiert, vor allem jedoch hat er sich mit den Berichten von Angehörigen Sterbender auseinandergesetzt. Kurz und gut: Er hat seine Hausaufgaben gemacht. Dabei ist ihm aufgegangen, "dass wir unsere gewohnten Anschauungen des unter allen Umständen und Bedingungen von intakter Hirnfunktion und -tätigkeit abhängigen Ichs infrage stellen müssen, sofern unsere vorläufigen Ergebnisse und Analysen halten." Vorsichtiger kann man sich kaum ausdrücken.

Der Untertitel, Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens, fasst zusammen. wovon dieses Buch handelt. Die Berichte von Familienmitgliedern darüber, was geschah, als die Patienten im Sterben lagen, sind faszinierend. So erfährt man etwa, dass Menschen, die an fortgeschrittener Altersdemenz leiden, unmittelbar vor dem Tod Momente geistiger Klarheit erlebten. "In gewisser Weise scheinen solche Fälle also fast allem zu widersprechen, was wir über die Abhängigkeit des Ichs bzw. der Geistes von intakten Hirnfunktionen zu wissen glauben: Sie scheinen die materialistische Arbeitshypothese grundlegend in Frage zu stellen."

Das Phänomen der terminalen Luzidität lässt sich weder medizinisch noch wissenschaftlich  erklären. Nur eben: Es existiert. es kommt zwar nicht besonders oft vor (soweit man das beobachten kann), doch es kommt vor. Was den Schluss nahelegt, dass unsere Erklärungsmodelle der Revision bedürfen. Und dies stösst natürlich auf Widerstand, denn von etwas abzulassen, das sich als höchst tauglich erwiesen hat, ist dem Menschen nicht wirklich gegeben.

Viktor Frankl und der australische Neurophysiologe John C. Eccles, der zu den Pionieren der Hirnforschung gehört, glauben "an das unzerstörbare Wesen der 'inneren' Person jedes vordergründig auch noch so schwer eingeschränkten Patienten als humane Tatsache und als moralische Leitlinie medizinischen und therapeutischen Handelns." Ein sinnvoller und pragmatischer Ansatz, doch letztlich eben ein Glaube, "der sich einer weiteren Überprüfung zu entziehen scheint."

Was mich besonders für dieses Buch einnimmt, ist das Grundsätzliche, das es anspricht. So stellt der Autor etwa fest, dass wir heutzutage weit seltener über Traurigkeit reden als die Generation vor uns. "Stattdessen sprechen wir von Depression." Anders gesagt: Wir glauben mittels "neutraler" Wortwahl die Welt verstehen zu können, sind dermassen materialistisch orientiert, dass wir das Unerklärliche, das so recht eigentlich magisch ist, nicht mehr sehen können.

So meint der estnisch-russische Philosoph Valentin Tomberg: "Der Materialismus tut in Bezug auf die Welt etwas, was in Bezug auf ein Kunstwerk absurd wäre, nämlich es anhand der qualitativen   und quantitativen  Eigenschaften der Materialien zu erklären, aus denen es besteht, und nicht anhand des Stils, des Bedeutungszusammenhangs und der Intention, dies aus dem Kunstwerk spricht. Wäre es nicht absurd, zum Beispiel ein Gedicht von Victor Hugo verstehen zu wollen, indem man die Tinte, mit der es geschrieben wurde, und das Papier, auf dem es steht, chemisch analysiert oder indem man die Anzahl der Wörter und Buchstaben zählt?"

Alexander Batthyány ist es darum zu tun, die in Verruf geratene Hoffnung zu rehabilitieren, denn er versteht die Hoffnung als uns anvertraut. Zudem glaubt er, "dass Hoffnung und unsere Ideale nicht aus einem Mangel heraus entstehen, sondern grundlegend im Menschen angelegt sind: Sie sind unser grösstes Gut. Der wirkliche Mangel zeigt sich vielmehr in der Abwendung von Hoffnung und Sinn – es wäre die Abkehr von einem wesentlichen Merkmal unseres Selbst- und Weiterlebens."

Letztlich geht es in diesem Buch um die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende sein wird. Alexander Batthyány glaubt das nicht und sieht seine Hoffnung auf ein solides Fundament gegründet, das er in diesem Werk vorlegt. Treffender als John C. Eccles kann man es meines Erachtens nicht sagen: "Ich denke, wir müssen einfach anerkennen, dass unserer Existenz ein Geheimnis innewohnt, das jede biologische oder materialistische Logik übersteigt."

Alexander Batthyány
Das Licht der letzten Tage
Das Phänomen der Geistesklarheit am Ende des Lebens
O.W. Barth, München 2024

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Moments in time



Bad Ragaz, 19 September 2024

Pictures, says Blazenka, who took these pics,
are defined by their background. Rarely have I seen
this more convincingly demonstrated than on these photos.
that show me nine days short of my 71 birthday.