Addiction / Sucht / Adicción
Reflections on destructive behaviour and attitude change
Mittwoch, 20. November 2024
Verhaltenssüchte personenzentriert verstehen und behandeln
Mittwoch, 13. November 2024
Glücklich ohne Alkohol
Mittwoch, 6. November 2024
Von der Hoffnung, meiner Feindin
Ich habe nur einen Feind: die Hoffnung.
Ständig sagt sie mir, alles werde nicht nur gut, sondern noch besser werden; immerzu treibt sie mich an, nie lässt sie mich sein, wo und wie ich bin.
Was wäre der Mensch ohne Hoffnung? habe ich einmal gelesen. Nicht nur Hemingway hat sich dies gefragt, doch ihm, als Alkoholiker (wenn, was wir über ihn gelesen, der Wahrheit entspricht), war die Hoffnung wohl überlebensnotwendiger als anderen, die vielleicht etwas weniger leiden und deshalb dieser tröstenden Vorstellung, dass alles, in der Zukunft, der fernen, eigentlich immer nur besser werden kann, nicht so stark bedürfen.
Wer in der Gegenwart lebt, bedarf der Hoffnung nicht. Vorausgesetzt natürlich, er (oder sie – die künftig immer mit gemeint werden soll) lebt gerne in dieser Gegenwart. Ein solcher muss nicht vertröstet werden, ein solcher schätzt, was er hat.
***
Der Mensch ist grundsätzlich unzufrieden angelegt, und deswegen ein sehnsüchtiges Wesen. Um mit Wilhelm Busch zu reden: was er hat, das will er nicht, und was er will, das hat er nicht. Und deshalb braucht er die Hoffnung, dass er eines (meist fernen) Tages (vielleicht aber auch erst im Himmel), haben wird, was er jetzt schon will (und dann möglicherweise nicht mehr haben möchte – doch das wäre eine andere Geschichte).
Ständig also hofft der Mensch auf bessere Zeiten. Diesen Vorgang bezeichnet man auch als warten. Dem Spanisch sprechenden Latino ist das eh dasselbe, für ihn bedeuten sowohl hoffen als auch warten esperar, was uns zum Schluss zwingt, dass wenn der Latino hofft, er zur gleichen Zeit auch wartet, und wenn er wartet, er ganz offenbar sogleich hofft. So richtig unmittelbar eingeleuchtet hat mir das, als ich letzthin auf den Bus wartete und dabei hoffte, dass er auch käme.
Für die Latinos ist also der Fall gelöst: sie haben absolut Null-Chance, jemals in der Gegenwart leben zu können. Und scheinen auch gar kein Problem damit zu haben, man denke nur an ihr andauerndes mañana. Oder meint das vielleicht das Gegenteil? Dass also das Heute das Wichtige und alles andere bis morgen warten könne?
Wir andern aber, die wir so gewiss sind, dass wir im Hier und Jetzt leben sollten (möglichst entspannt natürlich), wir haben ein Problem damit, dass wir, so sehr wir es auch wollen, es einfach nicht können.
Wo ein Wille, da kein Weg, sagt uns dazu der Psychologe von heute, und wir glauben zu ahnen, dass da was dran sein könnte, nur haben wir nicht den leisesten Schimmer, wie wir das jetzt praktisch umsetzen sollten. Im Gegensatz zum Psychologen – der fordert für solche Weisheiten Honorar.
Wir trotten also weiterhin ratlos durch die Gegend, wobei wir von Zeit zu Zeit auf Leute treffen, die behaupten, im Grunde sei alles ganz einfach, man müsse nur in der Gegenwart leben. Es sind dies in der Regel Menschen, die den Anblick in Blüte stehender Blumen unweigerlich mit Begeisterungsschreien kommentieren. Ich gestehe, mir ist ein solches Naturell nicht gegeben, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob ich wünschte, mir wäre ein solches mitgegeben worden. Und wenn ich schon beim Gestehen bin: mir ist von den mir bekannten drei Zeitzonen – der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft – die Gegenwart am wenigsten lieb. Nicht dass ich das gut finde, doch es ist so.
In einer Kultur gross geworden, die dem Sollen, dem Müssen, eine Prominenz zuweist, die einen in Null-Komma-Nix die Flucht in den Buddhismus antreten lässt, reagiere ich auf Aufforderungen, die mit „Du musst nur“ anfangen, automatisch mit Verweigerung und fühle mich dann fast augenblicklich auf eine mir nicht so recht erklärliche Art schuldig.
Doch so eine Sollens-Kultur bringt es eben auch mit sich, dass man immer weiss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. Und darauf hofft, wenn man denn das Seinige zu tun bereit ist, dass die Dinge eines Tages so sein könnten, wie sie eigentlich sein sollten.
Lasst alle Hoffnung fahren! hatte ich ja eigentlich immer als Drohung interpretiert. Wenn dem nun aber gar nicht so wäre, wenn das in Wirklichkeit eine Aufforderung wäre, sich der Realität, also dem, was ist, zu stellen? Und einfach zu tun, was zu tun ist, und sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen?
Ich weiss nicht so recht. Es klingt mir doch ein bisserl arg nach „glücklich, wer nicht denkt“, und dazu mag ich mich eigentlich nicht äussern, schon deshalb nicht, weil es, das weiss jeder, eindeutig was für sich hat, doch eben genauso eindeutig ziemlicher Humbug ist. Schliesslich ist einer, der denkt, deswegen nicht schon gleich unglücklich.
Und überhaupt, so sagt man, zeichne das Denken den Menschen doch aus.
***
Es gehe darum, den Wald voller Affen im Kopf zur Ruhe zu bringen, sagt der buddhistische Mönch im Hauptsitz des „World Fellowship of Buddhists“ in Bangkok. Wir sollten den Atem beobachten, ihm einfach folgen, konstatieren, was passiere. Wenn Gedanken uns ablenkten, sie weder verscheuchen, noch ihnen nachgeben, sondern sich sagen, aha, ein Gedanke, und dann wieder zum Atem zurückkehren.
Ein
Mann (der sei früher Professor in Berkeley gewesen, raunt mir mein
Nachbar zu) meldet sich: er habe das schon oft geübt, doch nach
zwei, drei Minuten sei er regelmässig weg von seinem Atem und voll
in Gedanken.
Der Mönch lacht. Das sei normal. Er solle einfach
weiter üben.
Mir geht es so wie diesem Mann: ganz schnell bin ich wieder bei meinen Gedanken (und sie bei mir). Das ist vertrautes Territorium. Und überhaupt finde ich meinen Atem zu beobachten ganz und gar nicht attraktiv.
Wir
üben jetzt eine halbe Stunde lang Meditation im Gehen, sagt der
Mönch. Stehen Sie gerade, fassen Sie den Punkt am Ende der Halle, wo
Sie hinwollen, ins Auge. Und jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre
Füsse: wie sie auf den Boden treffen, abrollen, sich heben.
Diesmal
geht’s, diesmal spüre ich das Heben, Senken, Auftreffen, Abrollen
der Füsse, die Vorwärtsbewegung des Körpers, und ohne dass mich
Gedanken sofort wieder wegholen. Diesmal brauche ich nicht zu hoffen,
diesmal bin ich ganz einfach – und tue, was ich tue.
Mittwoch, 30. Oktober 2024
It is by self-forgetting ... that one finds
"Lord make me a channel of Thy Peace, That where there is hatred ... I may bring love, That where there is wrong ... I may bring the spirit of forgiveness, That where there is discord ... I may bring harmony, That where there is error ... I may bring truth, That where there is doubt ... I may bring faith, That where there is despair ... I may bring hope, That where there are shadows ... I may bring light, That where there is sadness ... I may bring joy.
Lord, grant that I may seek rather to comfort ... than to be comforted, To understand ... .than to be understood, To love ... than to be loved.
For ... it is by self-forgetting ... that one finds, It is by forgiving ... that one is forgiven, It is by dying ... that one awakens to Eternal Life."
Mittwoch, 23. Oktober 2024
Never enough
One of the phenomena that doesn't cease to baffle me is the desire to always want more, that nothing does seem to be enough, never. The point is: I simply do not get it. Differently put: I know it but knowledge or mental insight does not help for it is (go figure!) not enough. What is needed in order to understand is action, to act my way into a new way of thinking.
For instance, I cannot get enough of books that promise me a good time as well as insights. Despite what public relations departments of publishing companies and reviews in renowned media suggest. I'm regularly disappointed for most new releases rarely offer anything new. In fact, most of non-fiction works start with the ancient Greeks and pretend that, despite lots of evidence to the contrary, we can learn from the past.
Most recently, I started to leaf through unread books that sit quite comfortably on my shelves. And, to my surprise, I've discovered that I had missed out on works that did not only intellegently entertain me but also provided me with useful insights. It couldn't have been more obvious that I already had what I thought that I needed to have.
How come then that I still couldn't control my compulsion for new books? Because my mind is wired in such a way that it always looks ahead. Well, can I not change that? Sure, by acting differently. For what I truly understand lies in my actions. How I really (albeit unconsciously) think is revealed by my actions.
Mittwoch, 16. Oktober 2024
Mein weiser Narr
Im
Februar 1986 erstand ich mir (zu der Zeit schrieb ich immer in die
Bücher rein, wann ich sie gekauft hatte) Jacqueline C. Lairs und
Walther H. Lechlers "Von mir aus nennt es Wahnsinn: Protokoll
einer Heilung". Lair, die in Bozeman, Montana, lebt, hatte
Alkoholprobleme und war medikamentenabhängig und suchte Hilfe beim
Mediziner Walther H. Lechler in Bad Herrenalb im Schwarzwald. "Ich
kann einfach keinen Grund sehen, weshalb ich lebe", schreibt sie
und lernt bei Lechler, "dass man alles über Bord werfen muss,
um das zu finden, was man braucht." Es ist ein Buch, das zu
meinen intensivsten Leseerfahrungen überhaupt gehört.
Im
Santiago Verlag sind nun unter dem Titel "Mein weiser Narr"
Lairs "Nachgedanken an eine Therapie" erschienen. Es ist
ein gelungener Text, weil er einen zum Nachdenken über Dinge bringt,
die man in der Regel einfach zur Seite schiebt. Über Wut, zum
Beispiel, die es, so der weise Narr Lechler, zu akzeptieren gilt:
"... nimm einfach diese gewaltige Energie wahr, die sie auslöst
... man muss lernen, diese Energie und die innere Unruhe, die sie mit
sich bringt, auf konstruktive Art und Weise auszudrücken, das ist
alles."
Das
Aussergewöhnliche an diesem Buch liegt darin, dass man erfährt, wie
Lechler zu seinen Einsichten und Überzeugungen gekommen ist: er
erzählt von Privatem und Schwierigem und lässt damit den Leser an
seinem Leben teilhaben. "Ich war wütend auf das Leben, auf
viele Menschen und überhaupt auf diese ganzen Lebensumstände. Ich
war wütend, dass ich überhaupt geboren worden bin und deshalb eines
Tages sterben muss. Ich fand das einfach unfair! Ich war auch wütend,
weil meine Mutter so früh starb, also ich noch so klein war ... Auch
heutzutage bin ich immer noch auf mich selbst wütend, wenn ich an
alle die Versuche denke, meine innere Wut zu verleugnen und zu
verdrängen, nur weil ich soviel Angst vor dieser Wut hatte
...".
Schon
mal von einem Arzt oder Therapeuten derart Persönliches gehört? Ich
nicht. Doch wozu soll das gut sein? Weil viele Alkoholiker und
Drogenabhängige erst dann bereit sind, zuzuhören, wenn sie merken,
dass da einer weiss, wovon er spricht. Aus eigener Erfahrung, nicht
nur aus Büchern. Das meint nicht, dass man Alkoholiker sein muss, um
Alkoholikern helfen zu können (Veterinäre wären sonst arbeitslos),
das meint, dass Klienten/Patienten spüren müssen, dass emotionale
Identifikation (einer der Schlüssel für eine Genesung) möglich
ist.
"Den
Weg über die Wiederentdeckung der Gefühle hielt sie (Jaqueline
Lair) für zu einfach, für zu simpel, zu närrisch", liest man
auf dem Schutzumschlag. In Gesprächen mit Lechler erfährt sie dann,
dass dieser dem Intellekt, der meist als Instrument des
Rationalisierens eingesetzt wird, skeptisch gegenüber steht: "...
mehr als alles andere habe ich gelernt, intellektuellem Wissen, das
gleichzeitig gefühllos ist, zu misstrauen", denn "all'
dieses Verstehen und all' dieses Wissen haben mir nie meinen eigenen
emotionellen Schmerz genommen. Die einzige Hilfe für mich war, diese
verdammte, negative Art und Weise zu verändern, wie ich über mich
selbst dachte. Und selbst das war nicht die ganz grosse Hilfe, wenn
ich ehrlich sein soll. Was mir noch am ehesten geholfen hat, mich
wohl zu fühlen, ist das simple Akzeptieren aller Höhen und Tiefen,
die mein Leben so mit sich gebracht hat. Ich bin wie das Wetter da
draussen, wie die Natur. Ich gehe durch meine Jahreszeiten und wenn
ich einfach akzeptiere, welche Jahreszeit da gerade auf meinem Herzen
liegt, dann kann ich mich damit abfinden und mich damit arrangieren.
Ich musste lernen, den Versuch aufzugeben, aus einem grauen Wintertag
ein Sommererlebnis zu machen - und zulassen und aushalten lernen,
dass das manchmal wehtut."
Ich
finde dies eine ganz wunderbare und hilfreiche Maxime, nicht nur für
Alkoholiker, Drogenabhängie oder Depressive, sondern so recht
eigentlich für alle.
Akzeptieren
ist das Eine, Handeln das Andere und im Gegensatz zu den Therapien,
die auf eine Verhaltensänderung durch Einsicht hoffen, schlägt
Lechler den klassischen 12-Schritte-Grundsatz vor, dass richtiges
Handeln zum richtigen Denken führen wird: "Du musst lernen, 'so
zu tun als ob' - so zu tun, als ob du bereits wüsstest, wie man ein
liebevolles Leben lebt, selbst, wenn du noch gar nicht daran glaubst.
Denn irgendwann wird dieses Verhalten ein Teil von dir und dann
kannst du wieder in vollem Umfang zu deinem Nutzen an der
menschlichen Gemeinschaft teilhaben." Auch wenn ich
vorbehaltslos zustimme, sprachlich (es handelt sich um eine
Übersetzung) ist das schon ziemlich hölzern.
Was
es auch noch braucht, um zu gesunden? Den Mut aufzubringen, gegen
unsere Hauptsorge "Was sollen denn die Leute denken?"
anzugehen. In Lechlers Worten: "Diese Spielregel hat mehr
Menschen in einen Tiefschlaf versetzt und mehr Beziehungen ruiniert,
als jede andere, die ich kenne."
Übrigens:
"Von mir aus nennt es Wahnsinn" ist ebenfalls beim Santiago
Verlag erhältlich.
Santiago
Verlag
Joachim
Duderstadt e.K.
Asperheide
88
D-47574
Goch
http://santiagoverlag.de
Sonntag, 13. Oktober 2024
Das Jetzt ist nicht zu fassen
Unterwegs
in fremden Ländern machte Hans Durrer die Erfahrung, dass
das Unspektakuläre, das Alltägliche, das sogenannt Banale ihn
anzog. In einer ihm unvertrauten Umgebung erlebte er Cafés,
Buchhandlungen, Fotogalerien oder Blumen am Strassenrand als
verblüffend exotisch. Und er erlebte, dass zufällige Begegnungen,
ein Blick, ein Satz ihn oft länger begleiteten als sogenannt
Wichtiges, das man sich merken will (und meist gleich wieder
vergisst). Davon, was alles so neben- und miteinander geschieht,
handeln die hier vorliegenden Texte.
Diese
Geschichten, Eindrücke, Notizen, Essays, Gedankensplitter,
Impressionen gehorchen nicht der gängigen Erzählweise mit Anfang,
Mittelteil und Ende. Erlebtes wird nicht gestaltet und in eine
bestimmte Ordnung gezwungen. Der Akzent liegt stattdessen auf der
Anschauung, dem Spüren und Fühlen sowie der Beobachtung des eigenen
Denkens. Denn ob wir die Welt verstehen oder nicht, ist der Welt
egal; unsere Erklärungen kümmert sie nicht.
Unterwegssein
ist eine Haltung. Sie bedeutet, sich aus den Routinen zu lösen, sich
auf Fremdes einzulassen, zu staunen. Dass wir hören und sehen, gehen
und liegen können, nach dem Schlafen wieder aufwachen, ist ein
Wunder, dessen wir uns selten bewusst sind. Wer einfach schaut, wird
mit der Zeit das Sehen lernen und dieses Wunder erfahren; wer
Antworten auf Warum-Fragen sucht, ersetzt es oft nur durch eine
Gewohnheit zu denken.
*Das
Jetzt ist nicht zu fassen" stellt den Versuch dar, das Leben so
darzustellen, wie wir es erleben: zufällig, oberflächlich, flüchtig
und nicht fassbar. Das zu akzeptieren, lässt sich üben. Am besten,
so hat es Hans Durrer erlebt, beim Unterwegssein.