John von Düffel, 1966 in Göttingen geboren, macht sich auf nach Edinburgh, wo er Fiona treffen will, mit der er vor fünfunddreissig Jahren zusammen studiert hat. Philosophie, in Stirling. Sie waren damals kein Paar gewesen, doch er hat in all diesen Jahren oft an sie gedacht. Noch an fast jeden Satz von ihr erinnert er sich, und vor allem an ihre Stimme.
"I want to sit on a stone and think", hatte Fiona damals gesagt. Ob sie das gemacht habe?, will John wissen, worauf sie schroff antwortet: "Glaub ja nicht, dass ich dir mein Leben erzähle." Doch genau das tut sie in der Folge, nicht am Stück, und nicht im Sinn eines stimmigen Narrativs, sondern bruchstückhaft. Es ist eine Lebensauseinandersetzung, ein Prozess, nie abgeschlossen, jedenfalls für Menschen mit Fionas Naturell.
Während des Studiums waren sie Aussenseiter, beide auf ihre jeweils eigene Art. John schloss sein Studium ab, Fiona brach es ab, da sie sich um ihren gelähmten Vater kümmern musste; auch vom Temperament her sind die beiden sehr verschieden. Das klassische Narrativ würde John vermutlich als arriviert und Fiona als gescheitert bezeichnen, doch das trifft es nicht einmal ansatzweise. Unsere Erklärungen sind selten etwas anderes als Manifestationen unseres gewohnten Denken und dieses kommt dem, was uns antreibt, nur selten nahe. Ich möchte lieber nichts bricht dieses gewohnheitsmässige Denken (reflektiert, differenziert und folgenlos) teilweise auf; das liegt wesentlich an der Radikalität von Fiona, deren Lebensumstände ihr Denken formen.
À propos Narrativ: "Jedes Narrativ ist manipulativ", erläutert John. "Es dreht und wendet die Details, damit am Ende herauskommt, was am Ende herauskommen soll. (...) Ich traue weder den Geschichten noch dem reinen Gedanken, weder der Narration noch der Abstraktion. Insofern kehre ich nach unserem Philosophiestudium und einem langen Umweg über das Erzählen zu unseren Anfängen zurück: zu den Fragen, von denen wir damals ausgegangen sind." Eine logische und sehr konventionelle Überlegung, der jedoch entgeht, worauf Fiona aufmerksam macht: "Rückkehr zu den Anfängen ist ein klassisches Narrativ." Und: "Die Wahrheit ist, du kehrst nicht zurück, und du wirst auch nicht bleiben."
Es ist ein dichter Text, fragend, suchend, explorierend, und wieder fragend. Im Zentrum ihrer Gespräche steht die Frage: "Wie lebe ich richtig?" Keine Frage, die mich mehr umtreibt, auch heute noch, mit 71. Aber eben auch eine Frage, die man nur mit wenigen Menschen angehen kann. John von Düffel kann es mit Fiona, die bereits während des Studiums immer zuerst überlegte, bevor sie eine Antwort gab (bei den meisten erfolgen Antworten automatisch, ohne nachzudenken) und die sehr direkt mit ihm umgeht.
Sie habe gelernt, ohne Antworten zu leben, sagt Fiona. "Und wie lernt man das?", will John wissen. "Fiona wirft den Kopf zurück, ohne zu lachen. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, dass es auch darauf keine Antwort gibt." Wunderbar!
Fiona kommt aus der Unterschicht, studieren kann sie wegen eines Stipendiums. Wie sie die bürgerliche Erziehung wahrnimmt, ist für jemandem wie mich, der wie John von Düffel dem Bürgertum entstammt, ein Augenöffner. "Bürgerliche Erziehung, wie ich heute weiss, ist die Übertragung der Erwartung der Eltern auf ihre Kinder. Und sie hat Erfolg, wenn die Kinder anfangen, von sich zu erwarten, was ihre Eltern von ihnen erwarten." Mit der Zeit werden diese Erwartungen derart verinnerlicht, dass die Kinder sie für ihre eigenen halten. Bei mir war es allerdings nicht so, doch das ist eine andere Geschichte ...
"Eine Geschichte vom Konsumverzicht" lautet der Untertitel. Klar, alles in unserer Konsumgesellschaft ist aufs Haben, aufs Immer-Mehr, aufs Den-Hals-Nicht-Vollkriegen ausgerichtet, doch was Fiona zum Konsum ("Konsum ist Diskriminierung") sagt, ist für mich neu. "Sich von anderen zu unterscheiden ist die Idee von Konsum. Dabei geht es nur vordergründig um Genuss, es geht um Gesehenwerden beim Geniessen und um die geheimen Codes, die deinen Rang definieren ...". Andererseits: Konsum ist auch Ablenkung. Und häufig ist Konsum Sucht. Fiona begreift ihn in erster Linie als Abhängigkeit.
Abhängig sind wir von Vielerlei. Und zuallererst vom Geld, dem Einzigen, woran wir alle glauben. "Die meisten Abhängigkeiten, in denen wir stecken, sind Beziehungen (...) Wer in einer Konsumgesellschaft lebt, aber nicht konsumiert, ist nicht Teil der Gesellschaft." Dazu kommt, dass der Konsum den Status bestimmt. Übrigens. Der Kapitalismus ist nicht dazu da, seine Glücksversprechen einzulösen, sondern mit der "Produktion von Mangel und Bedürfnissen" beschäftigt. Dafür braucht es Konsumenten, weshalb uns denn auch ständig eingeredet wird, wir seien alle Individualisten, für die vor allem charakteristisch ist, dass sie das wollen, was alle anderen auch wollen. "Ich will das haben, heisst, ich will die Person sein, die das hat."
"Du hast Angst vor der Veränderung, ich habe Angst vor der Nichtveränderung", schreibt Fiona nach Berlin. Der Unterschied der beiden liegt in ihrer Persönlichkeit und diese zeigt sich in der Art und Weise wie man lebt. Das Mass, so Fiona, das sei sie selber. Im Falle von John von Düffel ist das vermutlich komplizierter.
Das Buch endet mit einem Besuch von Mariann, Fionas Tochter, bei John in Berlin. Es ist ein ganz wunderbares, sowohl leichtes wie auch trauriges Kapitel, denn Mariann ist nicht nur eine Art jüngere Ausgabe von Fiona, sondern erzählt auch einiges von ihr, das John bislang gar nicht auf dem Radar gehabt hatte. Ob die Wahlmöglichkeiten, die wir zu haben glauben, auch wirklich welche sind?
Ich möchte lieber nichts ist ein aussergewöhnliches, ein wesentliches, mir sehr sympathisches Buch. Gut geschrieben, der Aufrichtigkeit verpflichtet, berührend, erhellend und hilfreich.
John von Düffel
Ich möchte lieber nichts
Eine Geschichte vom Konsumverzicht
DuMont Buchverlag, Köln 2024