Sonntag, 1. Juni 2025

Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben

Dieser Roman hat offenbar ein Anliegen, denkt es so in mir, als ich lese: "In Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben sind sämtliche Ereignisse und handelnden Personen frei erfunden. Die medizinischen und juristischen Aspekte sind faktentreu recherchiert und lassen sich anhand des Quellenverzeichnisses nachvollziehen." Ein Blick ins Quellenverzeichnis macht dann klar: Es geht um Sterbehilfe.

Der Roman als Plattform für eine Auseinandersetzung, für ein Argument? Nun ja, das ist er meistens, nur wird das selten auch ausgewiesen und so konkret benannt wie im vorliegenden Fall. Doch dieser Roman ist viel mehr: Eine Konfrontation mit existenziellen Fragen, die praktisch-philosophisch angegangen werden.

Helena, angehende Ärztin, und Marlene, Journalismus und Pharmazie, lernen sich im Studentenheim kennen, werden beste Freundinnen, dann erkalten die Gefühle, doch sie bleiben in Kontakt. Das ist überaus ansprechend geschildert, in einfacher, klarer, unprätentiöser Sprache – man glaubt sich mit dabei, nimmt emotional Anteil. Ein Roman, der sich liest wie eine Geschichte aus dem richtigen Leben, und überdies höchst unterhaltsam ist, da auch der Humor (inklusive Selbstironie) nicht zu kurz kommt.

Erzählt wird die Geschichte chronologisch, erfreulicherweise ohne Rückblenden, und entwickelt einen Sog, der einen unmittelbar gefangen nimmt. Klar doch, ich rede von mir, halte mich jedoch nicht für eine Ausnahme. Emails wechseln sich ab mit Schilderungen des sich entwickelnden Geschehens. Dazu kommen unerwartete Wendungen sowie nützliche Aufklärung, die im vorliegenden Fall allerdings auch als Werbung für Psychologen durchgehen könnte. "In der menschlichen Psyche gibt es keine Monokausalitäten, sondern meist komplexe Prozesse, die nur durch kontinuierliche Bearbeitung lösbar sind."

Marlene erhält die Diagnose Brustkrebs, möchte Helena als Ihre Ärztin, was Helenas Mann, von Beruf Psychologe, ihr auszureden versucht. "... Leid kann nur lindern, wer selbst nicht mitleidet. Und du wirst leiden wie ein Hund." Mit dem zweiten hat er wohl recht, doch mit dem ersten liegt er für mein Dafürhalten falsch, nicht zuletzt, weil der Gedanke eindeutig was für sich hat und dann eben doch nicht. Die menschliche Seele ist entschieden komplexer als die Welt der Psychologie.

Marlenes Zwillingsschwester Antonia ist an ALS erkrankt, was mich auch an meinen Freund Armando erinnert, der dieser Krankheit erlag (Meine allererste Reportage, die jetzt 25 Jahre zurück liegt, handelt davon, und findet sich hier). Die Gefühle, die mit Diagnosen wie fortgeschrittener Krebs und ALS einhergehen, schildert die Autorin eindrücklich. Genauso wie Helenas Umgang damit. "Als Freundin schuldete ich Lene Offenheit, als Ärztin war ich nur verpflichtet, ihr nicht die Unwahrheit zu sagen."

Lene möchte, dass Helena ihr bei ihrem Suizid (sollte sie sich dafür entscheiden) hilft. Nur eben: assistierter Suizid ist in Deutschland strafbar. Womit wir bei einem Kernthema dieses Romans angelangt wären, bei dem auch deutlich wird, dass der Justiz viel zu viel Macht eingeräumt wird. Dass einem dem Tode nahen Patienten unnötiges Leiden erspart bleiben sollte, leuchtet ein, doch was wird dabei eigentlich den Ärzten und Ärztinnen zugemutet? Helenas Auseinandersetzung mit dem Thema ist sehr differenziert, lässt sich meines Erachtens jedoch nicht juristisch lösen. Kommentiert ihr wohlmeinender Mann: "Ich bestreite nicht, dass es empathische Personen geben mag, die es unbeschadet überstehen, jemanden auf Verlangen zu töten. Aber du gehörst ganz bestimmt nicht dazu." Gut möglich, dass er recht hat; andererseits ist irren nicht nur menschlich, sondern gehört (neben dem Selbstbetrug) zu unseren grössten Talenten.

Dann wird die Strafbarkeit des assistierten Suizids gerichtlich aufgehoben. Ausführlich wird die medizinische, juristische und menschliche Situation dargelegt. So informativ und aufschlussreich das auch ist, am meisten beeindruckt hat mich die Schilderung von Lenes Umgang mit ihrem Krebs, dieser Mischung von Hoffnung und Panik, Wissen und Nicht-Wahrhaben-Wollen. Und wie sich die Angst mit der Zeit verändert. "Jetzt, da ich weiss, dass ich diesen Krebs nicht dauerhaft überleben werde, ist die Angst eher so, wie ich sie mir bei Astronauten vorstelle, deren Raumschiff irreparabel defekt ist. Sie schweben im All, können dessen gigantische Schönheit betrachten, sogar geniessen, noch geborgen im Schiffsinneren, wohl wissend, dass sie Mutter Erde nicht mehr erreichen können."

Doch bei diesem Gefühl bleibt es nicht, auch natürlich, weil es Gefühlen eigen ist, sich ständig zu ändern. Wie Lenes Ängste und Stimmungen sich wandeln, und was das mit ihrem Mann und ihrer Freundin Helena und deren Gatten macht, ist bestens nachvollziehbar. Und obwohl mir bewusst ist, dass es sich bei Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben um einen Roman handelt, hatte ich den Eindruck, ich lese über das wirkliche Leben.

Lou Bihl erzählt eine spannende, in der ärztlichen/medizinischen Realität angesiedelte Geschichte, die wesentlich dadurch charakterisiert ist, dass man sich nicht allein in Spekulationen ergehen kann, sondern praktisch handeln muss. Und genau das macht diesen Roman zu etwas Unüblichem, ausgesprochen Erfreulichem und überaus Berührendem.

Fazit: Packende, bewegende und überaus hilfreiche Aufklärung.

Lou Bihl
Nicht tot zu sein, ist noch kein Leben
Roman
Unken Verlag 2025

Mittwoch, 28. Mai 2025

In praise of not-thinking

How are you today?, the overweight German shouts at his tiny Thai wife, who is looking for shelter in the shade. Too much think, headache!, she responds.

As far as I'm concerned, I do love thinking, I can't get enough of it. For most of my life, I used to believe that thinking was useful. And, to some extent, it surely is. It however also causes problems that are a nuisance, happen to be totally unnecessary and are basically a distraction.

The best state of mind, this only recently started to dawn on me, is not-thinking

Santa Cruz do Sul, 22 December 2022

Sonntag, 25. Mai 2025

Das Geld & die Zahnbürste

Es ist selten, dass ich bereits nach den ersten Zeilen weiss, dass ich ein wesentliches Werk in Händen halte. Von der Würde des Menschen ist da die Rede, deren Inhalt "offen ist und offen bleiben muss und sich daher mit der genormten Sprache und dem nüchternen Denken von Juristen kaum vereinbaren lässt." Sonderbar (und dann wieder auch nicht), dass mich Denkerinnen, die nicht als Juristinnen ausgebildet wurden (hier: Herta Müller, zuvor: Petra Morsbach), mir, der ich einst Jura studiert (doch nie praktiziert) habe, Kennzeichnendes der juristischen Sprache deutlich machen.

Wie soll man leben?, sei die grosse Frage in der Diktatur gewesen. So recht eigentlich stellt sich diese Frage natürlich immer, doch wer sich dafür entscheidet, sich einer Diktatur zu verweigern, hat Folgen zu ertragen, die denen, die das nicht erfahren haben, kaum verständlich sind. Wie soll man leben?, bedeutet auch, sich zu fragen, wie man sein will. "Eigentlich wusste ich gar nicht, wie ich sein will, wer weiss das schon von sich. In einem gewissen Sinn wusste ich es dennoch, weil ich jeden Tag um mich herum sah, wie ich nicht sein will und auf keinen Fall werden darf."

"Freiheit und Würde sind immer konkret." Im Alltag zeigt es sich, was das heisst. Herta Müller weigert sich, Kollegen zu bespitzeln. "Ich hatte mir eine Freiheit erlaubt und dadurch eine Würde gerettet, die in diesem Land nicht vorgesehen war." In einer Diktatur sind die Konsequenzen gravierender als in einer sogenannten Demokratie (wo das Geld und nicht das Volk regiert), doch nicht mitzumachen bei dem, was ein System verlangt, wird immer sanktioniert.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald versammelt Essays zu ganz unterschiedlichen Themen, der gemeinsame Nenner ist das genaue Beobachten und das eigenständige Reflektieren der Autorin. Unter dem Titel "Heimweh nach Zukunft" erfahre ich unter anderem von Menschen, die zur Zeit der rumänischen Diktatur, ihr Denken und Trachten auf Fluchtmöglichkeiten projiziert haben. So haben einige Orientalistik studiert, um vielleicht eine Dienstreise nach Japan zur Beantragung von Asyl benutzen zu können, andere wurde technische Zeichner, in der Hoffnung, bei der Geländevermessung nahe der Grenze eingesetzt zu werden. Not macht erfinderisch, heisst es bekanntlich. Herta Müller demonstriert dies an konkreten Beispielen.

"Wenn ich mit dem Zug von Temeswar nach Bukarest fuhr, liefen die Schienen eine Weile ganz nahe an der Donau entlang. Man sah hinüber nach Jugoslawien. Und wenn dieser wegabschnitt anfing, standen in jedem Abteil alle allmählich auf. Ohne Grund, ohne ein Wort standen alle, absolut alle auf, gingen auf den Gang und schauten über die Grenze hinüber nach Jugoslawien."

In der chinesischen Diktatur, zitiert sie Liao Yiwu. praktiziert der Staat seine "uralte Tradition, Verbrechen mit Verbrechen zu regieren." Auch ist die Zensur alltäglich, was sie an Boris Pasternak erinnert, dessen Publikation von "Doktor Schiwago" durch Feltrinelli die Sowjets zu verhindern trachteten. "Zu Pasternaks Zeiten brauchte man für die Verhinderungen Intrigen, Geheimdienste und Delegationen. Heute besorgen ehemalige Manager grosser deutscher Unternehmen diese Angelegenheiten." Und Schriftstellerinnen wie Juli Zeh, der man mit Schmeicheleien offenbar das Hirn ausschalten kann.

Herta Müller ist breit interessiert, macht sich Gedanken über Casablanca, "ein Film über die Flucht vor Hitler – aber Juden kommen darin nicht vor. Und auch in den Namen der grossen Hollywood-Studios kommen keine jüdischen Namen vor [...] weil die Produzenten des Films diese antisemitischen Vorurteile des Publikums kannten.", beleuchtet das Ausblenden des Exils in der deutschen Nachkriegszeit (so erschienen etwa Hermann Ullsteins Erinnerungen erst 70 Jahre nach ihrem Erscheinen in den USA!), und zeigt am Beispiel der Gruppe 47 eindrücklich auf, wie feige und opportunistisch einige ihrer Mitglieder (Günter Grass, Günter Eich, Alfred Andersch, Hans Werner Richter, Walter Jens) sich verhielten, so dass es wieder einmal in mir denkt: Wer sich öffentlich moralisch zeigt, ist es wohl eher nicht.

"Wer im Exil war, gilt in Deutschland bis heute nicht als Opfer." Wer diesen Satz auf sich wirken lässt, wird erkennen, dass die gleichgeschaltete Gesellschaft von damals und von heute, nicht einmal ansatzweise mit denen klarkommt, die sich nicht gleichschalten lassen. Und wer würde bei diesem Satz nicht auch an das heutige Russland denken? "Der Nationalsozialismus hatte neben der Vernichtung der europäischen Juden auch die Auslöschung der Moderne zum Ziel." 

Obwohl die hier vorliegenden Texte zumeist von Vergangenem handelt, ist vieles davon nicht nur aktuell, sondern gar nie vergangen oder immer noch da. "Für Carl Zuckmayer hatte in den 30-er Jahren 'die Unterwelt ihr Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheusslichste unreinsten Geister losgelassen' zum 'Begräbnis aller menschlichen Würde.'" Für nicht wenige beschreibt das genauso ihre heutige Realität.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald ist reich an vielfältigsten Anregungen und so recht eigentlich ein Buch für Neugierige, die es schätzen, Entdeckungen machen und die gerne überrascht werden (klar doch, so sehe ich mich selber), denn Herta Müller erzählt derart viel höchst Aufschlussreiches, dass man nicht nur immer mal wieder ungläubig den Kopf schüttelt (etwa dass der der vor den Nazis geflohene Schauspieler Conrad Veidt in Hollywood regelmässig Nazis spielte) und sich Fragen stellt, die den meisten wohl gar nie in den Sinn kämen. "Kann man Humor lernen?" Ja, meint sie. Ich selber sehe das zwar anders, doch man lese ihre lohnenswerten Ausführungen.

Herta Müller
Eine Fliege kommt durch einen halben Wald
Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2025

Mittwoch, 21. Mai 2025

My Next Breath

Von Jeremy Renners Unfall habe ich gehört, als Schauspieler ist er mir kein Begriff. Wie komme ich also dazu, dieses Buch zu lesen? Mich interessiert, wie Menschen mit Schicksalsschlägen umgehen. Der Untertitel heisst: Die Geschichte meines Überlebens.

Im Prolog beschreibt Jeremy sich als einen, für den wichtig ist, etwas zu tun. "Nicht nur an Sachen denken, nicht bloss Sachen fühlen – den ersten Schritt tun und dann den nächsten und dann den nächsten. Tu es!" Ein typischer Amerikaner also. Gut möglich, dass mir und anderen sein Imperativ ("Für mich war Handeln alles") auch gut tun könnte.

Am Neujahrstag 2023 gerät er unter eine sechs Tonnen schwere Pistenraupe. Er weiss nicht wirklich, was mit ihm geschehen ist. "Ich habe keine Informationen über den Zustand meiner Knochen, meines Körpers, nur dass ihm ein entsetzliches Unglück widerfahren ist." Er realisiert, dass er nicht atmen kann. Er versucht es trotzdem. Und weiss gleichzeitig, dass das ein Problem ist. "All das floss in diesen Augenblick ein."

Es ist überaus aufschlussreich und bewegend, ganz speziell in Anbetracht dessen, was gerade geschehen ist, was er über das Atmen schreibt, das für ihn immer eine besondere Wichtigkeit gehabt hat. Die Botschaft "Atmen nicht vergessen" erschien einst auf dem Startbildschirm seines Handy; das bewusste Atmen ersetzte Valium und Joint. "Es ist so viel besser, der eigenen Lunge zu vertrauen als eine Droge." Als es ihm schliesslich gelingt, einen Atemzug zu machen, ist er sich gewiss, dass er nicht sterben wird.

Das Ehepaar, vor dessen Haus er liegt, ruft die Rettung und kümmert sich um ihn. Die Dramatik dieser Situation wird so eindrücklich vermittelt, dass man glaubt, vor Ort mit dabei zu sein. Das Verblüffendste für mich ist: "Obwohl mein Körper völlig zerschmettert ist, mein Auge heraushängt, jeder Atemzug einem qualvollen Liegestütz aus den Tiefen des Ertrinkens gleichkommt (was auch immer das heissen mag!?), gelingt es meinem Verstand, sich in eine Art instinktives Problemlösen zu versenken." Wieder einmal denkt es so in mir: es ist der Lebenswille, der uns regiert.

Jeremys Tu-Etwas-Mentalität prägt auch seinen Umgang mit seinen Ängsten. "Hatte ich die Angst erst benannt, musste ich jeden Tag Schritte ergreifen, um sie zu bekämpfen." Er lernt, dass es ungeheurer Energie bedarf, um einer Angst zu begegnen. Und diese Energie setzt er zielgerichtet ein. Entscheidend scheint ihm, "das zu ermitteln, was man nicht tun will. Wichtiger als das, worin man gut ist."

Es spricht sehr für dieses Buch, dass es keine Nabelschau ist, sondern die von diesem schweren Unfall mannigfaltig Betroffenen mit einbezieht  Vom Ehepaar, das plötzlich einen Schwerverletzten vor ihrem Haus findet, bis zur Tochter, die sich an diesem Morgen fragt, wo bloss ihr Vater steckt, bis zu seiner Schwester, deren unmittelbare Gedanken nach der Nachricht vom Unfall, sie wohl selber nicht recht verstand. "Es ist kaum zu glauben, wie ein Verstand unter Trauma reagiert."

Jeremy Renner beschreibt sich selber als rechthaberisch. Er sei bekannt für seine Renner-Ansagen, die er ungefragt an Leute heranträgt. Dabei stösst er oft auf Widerstand. "Aber ich bleibe beharrlich, und sobald einer kapiert, hat sich das Ganze gelohnt." An Selbstbewusstsein fehlt es dem Mann wahrlich nicht, und dieses trug auch wesentlich zu seinem Überleben bei.

"Ich weiss, dass ich starb – vielmehr bin ich mir dessen sicher." Ausführlich erzählt er, was er dabei erlebt hat. Er macht die Erfahrung, dass man sich vor dem Tod nicht zu fürchten braucht. Schon immer hatte er gespürt, dass wir über unsere Galaxien hinausreichen. "Dieser Tod bestätigte es mir: Ich war nirgends, in einem nicht-linearen Energieland voller Schönheit und Wunder."

My next Breath ist nicht nur ein eindrückliches Dokument des Überlebenswillens, sondern ebenso der Macht des Schicksals. Vor allem jedoch zeugt es von der Erfahrung, "Teil von etwas zu sein, das viel grösser ist als ich."

Jeremy Renner
My Next Breath
Die Geschichte meines Überlebens
Penguin, München 2025§

Sonntag, 18. Mai 2025

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken ist nicht nur ein ganz wunderbarer Titel, sondern auch die kurze und prägnante Zusammenfassung dessen, was in diesem Buch ausgeführt wird. Es empfiehlt sich, immer mal wieder darauf zurückzukommen, und bei diesem Gedanken, der nichts anderes ist als ein Gedanke, zu verweilen. Am besten etwas länger als die halbe Minute, die für eine Fernsehmoderatorin offenbar genügt hat. Nun ja, die mediale Präsenz des Autors hat ihren Preis, was sich auch am Inhaltsverzeichnis ablesen lässt. Kapitelüberschriften wie "Geringes Selbstwertgefühl überwinden" oder "Schuld und Scham transformieren" erinnern fatal an Selbsthilfebücher, und obwohl auch in diesen immer ein Körnchen Wahrheit steckt, wie Autor Muho ausführt, ist Alles, was du denkst, sind nur Gedanken etwas ganz anderes: Eine Anleitung, sich mit dem Leben zu konfrontieren, wobei der Akzent auf dem Alltag liegt.

Im Vorwort erläutert Muho, der 1968 in Berlin geborene, frühere Abt von Antaiji, einem tief in den japanischen Bergen gelegenen Zenkloster, der heute u.a. auf Youtube aktiv ist, dass es darum gehe, die Gedanken zu beobachten. Zudem lädt er dazu ein, "die praktischen Übungen auszuprobieren und die Reise, auf die wir uns gemeinsam in diesem Buch begeben, als dein eigenes Abenteuer zu betrachten. Es gibt keine festen Antworten, keine fertigen Lösungen – nur die Möglichkeit, den nächsten Moment bewusster zu erleben."

Ich selber mache das schon seit längerem, beobachte oft nach dem Aufwachen die Gedanken und Gefühle (ich kann die beiden nicht unterscheiden), die mir durch den Kopf gehen. Wozu lese ich also dieses Buch? Weil ich nicht genug daran erinnert werden kann, dass einfach da zu sein und nichts zu tun, mich potentiell im Hier und Jetzt sein lässt. Potentiell? Ja, denn mein antizipatorisch angelegtes Hirn, will das nicht, rennt dauernd weg, in die Vergangenheit, in die Zukunft, nach hier und dort, doch immer weg aus dem Moment, der gerade ist

"Wie befreie ich mich vom Leiden?" ist ein Kapitel überschrieben, das, wie die anderen Kapitel auch, durch klare und einfache Worte von Kodo Sawaki eingeleitet wird, die deutlich machen, dass das Leben und unsere Vorstellung vom Leben zwei ganz verschiedene Dinge sind. "Wir sind so beschäftigt mit der Geschichte, die wir uns von unserem Leben erzählen, dass wir es oft versäumen, auch tatsächlich zu leben", schreibt Muho.

Wir alle halten uns für den Mittelpunkt der Welt. Diese dreht sich um uns, wir alle erleben uns als Hauptdarsteller in einem Film, obwohl wir für die anderen bestenfalls Nebendarsteller sind. Sich einmal vom Standpunkt des Mondes aus zu betrachten, ist definitiv nützlicher.

Die Antworten auf unsere Fragen finde man nicht in Büchern, so Muho. Warum schreibt er dann überhaupt ein Buch? "Um dir zu helfen, dich deinen eigenen Fragen zu stellen, ohne vorschnell nach Auswegen zu suchen." Dazu gibt er viele praktische Anleitungen, etwa: "Begib dich nicht in die Position dessen, der sich die Frage stellt, sondern sei ganz der, dem die Frage gestellt wird. Stelle dich deiner Frage."

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken vermittelt ganz viele wertvolle Einsichten  von Vorschlägen, wie man intelligent mit seiner Wut umgehen kann, zum Umgang mit seinen Ängsten. Entscheidend ist letztlich jedoch dies: "Solange du es nicht im Alltag praktizierst, wird dein Wissen keine Wirkung haben." Doch so hilfreich ich dieses Buch auch finde – es sei allen empfohlen, die sich ernsthaft mit sich selbst und dem Leben auseinandersetzen wollen – , es gibt auch Aspekte, die allzu vieles nicht erklären. So heisst es etwa: "Auch wenn die wenigsten von uns an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leiden, sollte man nicht vergessen, dass die meisten von uns narzisstische Züge tragen, die ihnen vielleicht gar nicht bewusst sind." Das ist zweifellos richtig, doch der Blick auf sich selber ist entschieden nicht angesagt, wenn viele der sogenannten politischen Führer oder Unternehmerinnen empathielose Egomanen sind, unter denen vor allem die sozial Schwachen zu leiden haben.

Ein anderes Beispiel: Meditation kann Therapie ergänzen; es kann allerdings vorkommen, dass sie Depressionen oder Panikattacken verschlimmert. "Wenn du dich in psychotherapeutischer Behandlung befindest, solltest du gegebenenfalls deinen Therapeuten fragen, ob Mediation für dich ratsam ist oder nicht. Keinesfalls solltest du glauben, dass eine Psychotherapie durch Meditation ersetzt werden kann. Das ist nicht der Fall!" Zugegeben, das klingt vernünftig. Ob allerdings die Psychotherapie Depressionen oder Panikattacken lindern kann, halte ich zumindest für fraglich. Meines Erachtens schafft die psychologische Herangehensweise die meisten Probleme erst, die sie vorgibt, zu "lösen".

Alles, was du denkst, sind nur Gedanken überzeugt durch die Verbindung von Erläuterungen und praktischen Übungen sowie dadurch, dass alles, was Muho hier ausbreitet, einen persönlichen Bezug zu ihm und seinen Erfahrungen hat. Wobei: Eine Nabelschau ist das nicht, beileibe nicht, sondern das Bemühen, das Leben direkt und unverfälscht zu erfahren. Dabei steht uns vieles im Weg, insbesondere unsere Vorstellungen und Erwartungen.

"Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom andern zu unterscheiden", zitiert Muho auch den US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr. Meine eigene Erfahrung mit diesem Gelassenheitsgebet, hat sich in den 40 Jahren, die ich es kenne, einige Male gewandelt. Auch Muho erzählt von sich wandelnden Sichtweisen; er handelt dies an der bekannten buddhistischen Geschichte von der Mutter ab, die untröstlich über den Tod ihres kleinen Kindes ist. Es ist der Perspektivenwechsel, der uns immer wieder erlaubt, das Leben neu zu sehen.

Wenn, dann. Dieses Denken gehört zu den grössten Hindernissen, die unseren Lebensweg beschweren. Ich bin noch nicht soweit, ich brauche Zeit, das ist nicht der richtige Moment. Wir alle kennen das. Muho zitiert Benjamin Hoff, den Autor von The Tao of Pooh: "'Welchen Tag haben wir?', fragte die Eule. 'Heute', quiekte das Ferkel. "Mein Lieblingstag', sagte Pooh." Wunderbar! Besser geht es so recht eigentlich nicht.

Muho
Alles, was du denkst, sind nur Gedanken
Ballast loswerden und im Jetzt ankommen
O.W. Barth, München 2025

Mittwoch, 14. Mai 2025

Not-God

 . . . the fundamental and first message of Alcoholics Anonymous to its members is that they are not infinite, not absolute, not God. Every  alcoholic’s problem had first been, according to this insight, claiming God-like powers especially that of control. But the alcoholic, at least, the message insists, is not in control, even of himself; and the first of recovery towards recovery from alcoholism must be admission and acceptance of this fact that is so blatantly obvious to others but so tenaciously denied by the obsessive-compulsive drinker.

Ernest Kurtz

Sonntag, 11. Mai 2025

Sucht und Spiritualität

"Ich erwarte nicht, dass alle, die das Buch in die Hände bekommen, sämtliche Inhalte auf Anhieb teilen mögen. Dafür ist die Vorstellung von den Elementalen zu unvertraut. Lassen Sie aber die daraus hergeleiteten imaginalen Methoden zu sich sprechen, werden Sie nicht unberührt bleiben", so der Autor, der über 30 Jahre Erfahrung in der Drogen- und Suchtarbeit verfügt, in seinem Vorwort.

Der Begriff Elemental geht auf Paracelsus zurück, der den vier klassischen Elementen Wasser, Luft, Erde und Feuer, eine bestimmte Gruppe von Geistern zugeordnet hat. "Manche Geister bezeichnet er im Gefüge seiner Systematik als Elementale. In erster Linie sieht er in den Elementargeistern positive, gute und hilfreiche Elementale am Werk, die als von Gott geschaffene Wesen dem Leben förderlich und dienlich sind."

Mir sind solche Vorstellungen fremd, obwohl ich es plausibel finde, dass es böse, unreine und dämonische Kräfte wie auch dienstbare Geister im Universum gibt. Helmut Kuntz führt aus: Auch Jesus Christus standen dienstbare Geister zur Verfügung, zudem verfügte er über heilsame Kräfte, die mit dem Verstand nicht erklärt werden können. Nur eben: Jesus Christus ist für mich keine historische Figur; er repräsentiert die Weltanschauung, mit der ich aufgewachsen bin.

"Wenn Sie als Leser gerade Vorbehalte gegen die bildhaften Beschreibungen mancher Elementale als Schlangen oder andere Tiere verspüren sollten, dann springen Sie doch kurz voraus (...) Es wird Ihnen dann wie Schuppen von den Augen fallen, wenn Sie erfahren, in welchen Gestalten süchtig abhängige Menschen ihre erzeugten Elementale sehen." Bei mir ist das vom Autor Prophezeite zwar nicht eingetreten, doch dass ich selber keinen Zugang zu diesen Gestalt-Visualisierungen habe, bedeutet natürlich nicht, dass sie für andere nicht funktionieren können. 

Engel und Schutzengel sind heute vermutlich den meisten Menschen fremd. Ersetzen wir diese Begriffe jedoch durch "gute Energie" oder "positive Kräfte", haben wiederum viele damit überhaupt keine Mühe. "Viele meiner weiblichen wie männlichen suchtgefährdeten Patienten haben nicht die geringste Scheu, mir von der Hilfe ihrer Engel in ihren schlimmsten Momenten zu berichten, sobald sie spüren, dass ich offen dafür bin und ihre Berichte mit andächtigem Ernst verfolge", schreibt Helmut Kuntz. Allerdings glaube ich nicht, dass es daran liegt, dass der Therapeut/Berater offen dafür ist oder über andächtigen Ernst verfügen muss, denn wenn Leute reden wollen, reden sie. Worüber auch immer. Der Zuhörer ist meist nicht besonders relevant.

Wichtig für das Gelingen eines (möglichst) suchtfreien Lebens, scheint mir weniger der Therapeut oder die Therapeutin oder eine bestimmte Methode, als die Grundhaltung des oder der Süchtigen. Als ich mich nach sechs Jahren alkoholfreiem Leben in Hazelden, Minnesota, über die Ausbildung zum addiction counselor kundig machte, fragte mich der Cheftherapeut auch nach meiner Motivation. Ich sei immer an existenziellen Fragen interessiert gewesen, sagte ich, worauf er meinte, dann sei ich bei ihnen an der falschen Adresse, da es in Hazelden darauf ankäme, die Patienten wieder zurück in den Job und zur Familie zu bringen. Ich verzichtete, ihn darauf hinzuweisen, dass möglicherweise der Job und die Familie die Sucht ausgelöst oder dazu beigetragen haben. Dass wir in süchtigen Zeiten leben, zeigt sich auch in "unserem" Wirtschaftssystem, das bekanntlich auf Mehr-Mehr-Mehr basiert.

Wir wissen nicht, was eine Sucht auslöst oder was sie zum Stoppen bringt. In meiner Vorstellung war nicht ich es, der mit dem Saufen aufgehört hat, vielmehr ist mir eine Gnade widerfahren. Helmut Kuntz zitiert eine Kollegin, der viel mit Kindern und deren Eltern arbeitet. "Die Therapien mit ihnen, das, was wirkt und heilt, hat für mich einen spürbaren spirituellen Ursprung. Da sind immer die Gewissheit und Freude in mir, dass ich mich in meiner alltäglichen Arbeit davon getragen und gestützt fühle." Für mich handelt es sich dabei um eine Art "Chemie", um "etwas in der Luft". Ich stelle mir vor, es ist immer da, ob ich oder der/die andere oder beide zusammen es spüren oder nicht. "The readiness is all", sagt Horatio in Hamlet.

 Helmut Kuntz trifft mit seiner Einschätzung, dass Sucht mehr ist als Medizin, ins Schwarze. Meine eigene Erfahrung (seit über 35 Jahren trockener Alkoholiker) und meine intensive Beschäftigung mit Sucht und Verhaltensänderungen, hat mir die Wahrheit von Shakespeares "Es gibt mehr Ding' im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt." immer wieder von Neuem bewusst gemacht. So war seit meinem 14ten Lebensjahr meine fixe Idee, nur an einem Montag könnte ich mein Leben ändern. Dazu kam im Laufe der Jahre, dass ein solcher Montag ein bedeutsamer Tag sein müsse, ein 1. Januar oder Weihnachten oder mein Geburtstag. Im Kopf wusste ich, dass das absurd war. Nur eben: In Tat und Wahrheit war Montag, der 1. Januar 1990, mein erster alkoholfreier Tag. Mit der gängigen Logik ist, jedenfalls gemäss meiner Erfahrung, der Sucht nicht beizukommen.

Helmut Kuntz gehört erfreulicherweise nicht zu denen, die glauben, das Rad neu erfinden zu müssen.  Dass er dabei auf das Heilen setzt, das eine lange Tradition hat, ist zwar nicht mein Ding (ich bin skeptisch gegenüber "besonderen Menschen" wie Heilern), doch in diesem Buch findet sich derart viel Reflektiertes und Hilfreiches zur Sucht, dass die Auseinandersetzung definitiv lohnt, und speziell das Kapitel Dharma oder das Eingebundensein in ein Drittes als Weg zum Ausstieg aus der süchtigen Abhängigkeit.

Sucht und Spiritualität plädiert übrigens nicht nur dafür, "uns wieder verstärkt anzubinden an ein höheres Wissen und die Qualität dienstbarer Geister", Helmut Kuntz singt auch das Lob des bestehenden Suchthilfesystems, das zu seinem Bedauern "leider viel zu selten angemessene Würdigung" erfährt. Ich kann das nicht beurteilen, mir selber ist es nie in den Sinn gekommen, das bestehende Suchthilfesystem in Anspruch zu nehmen. Doch da ich ein Anhänger der "Whatever works"-Herangehensweise bin und dieses Buch mich auf Aspekte aufmerksam macht, die ich so nicht auf dem Radar hatte, will ich Sucht und Spiritualität ganz unbedingt empfehlen

Helmut Kuntz
Sucht und Spiritualität
Abhängigkeit weiter denken,
neu verstehen, verbundener handeln
Schattauer, Stuttgart 2025